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Irgendwas geht immer (German Edition)

Irgendwas geht immer (German Edition)

Titel: Irgendwas geht immer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn French
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schien sich aufrichtig für meine Arbeitsweise zu interessieren, was für einen Jungspund wie ihn ziemlich beeindruckend ist. Schließlich kann er kaum älter als dreißig sein. Jedenfalls war er sehr aufmerksam und neugierig, und seine Fragen zeigten mir, dass er mir ganz genau zugehört hatte. Ich vermute, dass er ein klein wenig Angst vor mir hat. George erzählt mir ständig, dass ich in der Praxis als eine Art Jekyll-Hyde-Figur gelte – ruhig und geduldig mit den Patienten, aber streng und unwirsch im Kontakt mit allen anderen. Was völlig okay für mich ist. Und es stimmt auch. Fragen Sie meine Familie. Sie sind nicht meine Patienten, folglich teilen sie unter Garantie die Einschätzung, dass ich die personifizierte Mrs Hyde bin. Dass ein Praktikant ein klein wenig Angst vor mir hat, finde ich völlig in Ordnung. Sie gewährleistet, dass er sich zusammenreißt. Noel hingegen schlug sich ziemlich tapfer und bemühte sich sichtlich, mehr von mir zu erfahren, weshalb ich mich verpflichtet fühlte, ihm alles zu erklären, was er wissen wollte. Obwohl ich nur sehr wenig Zeit habe.
    Ehrlich gesagt bin ich bis über beide Ohren mit Arbeit eingedeckt, was ich ihm auch mitteilte, als er vorsichtig anklopfte und fragte, ob wir unser Gespräch nicht im Pub fortsetzen könnten – Lisa warf uns ja förmlich aus dem Büro. Mittlerweile hat sie sich angewöhnt, laut mit den Schlüsseln zu klimpern, während sie in ihren Kampfstiefeln durchs Büro stapft und offiziell das Ende des Arbeitstags verkündet. Sie scheint in die Rolle der Gefängniswärterin geschlüpft zu sein, und ich kann mich nur wundern, wie bereitwillig wir uns von ihr wie Gefangene behandeln lassen, auch wenn wir abends nicht ein-, sondern ausgeschlossen werden.
    Jedenfalls sah ich keinen Grund, weshalb ich nicht mit Noel auf ein kurzes Bier in den Pub gehen sollte. Schließlich verziehen sich George und Veronica regelmäßig nach der Arbeit ins The Keys. Nur heute offenbar nicht.
    Noel besorgte unsere Getränke – einen Cider für mich, für ihn ein Bier –, dann setzten wir uns an den einzigen freien Tisch, an dem es allerdings ziemlich zog. Sofort löcherte er mich weiter mit Fragen über meine Arbeitsmethoden. Dieser junge Mann ist ohne jeden Zweifel blitzgescheit und blickt zuversichtlich in eine Zukunft als erfolgreicher Therapeut. Er ist weniger Jungianer als ich, sondern folgt mehr der Lehre von Melanie Klein mit ihrer eher interpretativen Herangehensweise, dennoch halte ich ihn für ein cleveres Bürschchen, sogar mit einem Anflug von Kampflust, wenn man ihn herausfordert, was mir sehr gut gefällt. Wir verstrickten uns in eine anregende Debatte über das Thema Vertraulichkeit, worauf er sich ziemlich ins Zeug legte.
    »Die Frage ist doch, Mo – wenn ich einen Teenager vor mir sitzen habe, der mir von seinen Suizidgedanken erzählt, wie verhalte ich mich in so einem Fall? Verschweige ich es den Eltern? Oder was ist mit kriminellen Aktivitäten? Gilt hier dasselbe? Verschweige ich es der Polizei? Das ist verflixt heikel …«
    Es war höchst bereichernd. Wunderbar. Als es langsam Zeit wurde aufzubrechen, kam die Rede auf unsere Familien. Es schien ihn zu erstaunen, dass ich seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet bin. Genauso wie mich selbst, beruhigte ich ihn. Und ich kann es tatsächlich selbst kaum glauben. Sechsundzwanzig Jahre mit ein und demselben Mann. Selbst als ich vor dem Altar stand und lautstark verkündete, den Rest meines Lebens an seiner Seite verbringen zu wollen, war mir nicht klar, dass so viele Jahre daraus werden könnten. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich schon länger verheiratet bin, als ich ledig war. Ich spürte bereits die Zersetzung an mir nagen.
    Noel sagte mir, er bewundere mich, weil ich »trotz allem« durchgehalten hätte. Allerdings ist mir nicht ganz klar, was er mit »trotz allem« meint. Er kennt mich doch noch gar nicht so lange und hat keine Ahnung von meinem persönlichen »trotz allem«, dennoch bin ich ihm merkwürdigerweise dankbar für seine Anerkennung. Er kann gar nichts über mich wissen, über die Einzelheiten meines Lebens, völlig ausgeschlossen. Das war nur ein Allgemeinplatz. Etwas anderes kann er nicht damit gemeint haben. Trotzdem geht mir die Bemerkung nicht mehr aus dem Sinn, und ich hülle mich in sie wie in eine behagliche Decke.
    Selbst jetzt freue ich mich noch über sie. Warum? Vielleicht weil es lange her ist, dass ich das Gefühl hatte, von jemandem bewundert zu werden.

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