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Irgendwas geht immer (German Edition)

Irgendwas geht immer (German Edition)

Titel: Irgendwas geht immer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn French
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aussehen. Mein Mantel ist unzulänglich, und ich bin es ebenfalls. Ich habe mich immer davor gefürchtet, eines Tages genau so auszusehen. Und allem Anschein nach ist genau das passiert. Ich wirke müde und beinahe verzweifelt, so als hätte ich kein Fünkchen Lebensfreude in mir. So weit hätte es niemals kommen dürfen. Niemals, und schon gar nicht so früh. Obwohl ich groß bin, wirke ich ärmlich und eingefallen. Wie zum Teufel bin ich je auf die Idee gekommen, ich könnte Vitalität und Energie verströmen? In Wahrheit bin ich … ein Wrack.
    Aber wieso hat nie einer etwas gesagt? Wieso hat mein reizender Ehemann bei meinem Anblick nie schockiert oder bestürzt gewirkt? Wieso hat Pamela keinen Warnschuss abgegeben? Hat sich mein Verfall so schleichend und klammheimlich vollzogen, dass ich ihn deshalb nicht bemerkt habe? Dass mein Gesicht jeden Kampfgeist verloren hat, ist mir in letzter Zeit ja bereits mehr als einmal aufgefallen, aber mein Körper? Ich laufe in dem Glauben, ziemlich gut in Schuss zu sein, mit diesem Körper durch die Gegend, dabei habe ich sichtlich nachgelassen, und keiner hat mir etwas gesagt. Liegt es daran, dass ich mich immer nur in Oberkörperspiegeln sehe?
    Ich war so entsetzt über meinen Anblick, dass ich mehrere Male versuchte, vor meinem Spiegelbild zu flüchten, nur um nach wenigen Schritten wieder umzukehren und noch einmal vor das Schaufenster zu treten, um sicherzugehen, dass ich auch tatsächlich die Frau darin war.
    Schließlich löste sich einer der jungen Lügner aus dem Schatten des Maklerbüros und warf mir ein wissendes Lächeln zu. Er sagte irgendetwas … Wie? Er lächelte und winkte mich herein. Oh Gott, dachte ich, er dachte, ich sehe mir eines der Angebote im Schaufenster an. Er kam zur Tür und lud mich ein hereinzukommen. Ich war so schockiert über meine Entdeckung, dass ich ihm aus völlig unerklärlichen Gründen hineinfolgte. Vierzig Minuten später stand ich mit einem Stapel Exposés von Landhäusern in meiner Preiskategorie wieder auf der Straße. Ich hatte meine Mittagspause damit verschwendet, mir von einem jungen Schnösel Häuser anpreisen zu lassen, die ich nicht haben wollte, und eine Frau zu spielen, die ich in Wahrheit nicht war. Was ist hier los, verdammt noch mal? Vierzig Minuten meines Lebens sinnlos vergeudet.
    Ich eilte in die Praxis zurück und brachte die wenigen kostbaren Minuten, die mir noch blieben, auf der Toilette zu, wo ich hektisch Make-up auf meinem Gesicht verteilte, ein vergeblicher Versuch, das Grauen wenigstens halbwegs unter Kontrolle zu bringen.
    Es grenzte an ein Wunder, dass keiner meiner Patienten an diesem Nachmittag bei meinem Anblick entsetzt zurückwich, was meine Vermutung nur bestätigt, dass sich mein Niedergang schleichend vollzogen hat und keiner der Erste sein will, der ihn bemerkt. Oder, schlimmer noch, vielleicht will mich auch gar niemand mehr bemerken. Sie hören mir zu, sehen mich aber gar nicht mehr an. Könnte das der Grund sein? Bin ich unsichtbar geworden? Biete ich einen so abstoßenden Anblick, dass es erträglicher für die Menschen ist, einfach durch mich hindurchzublicken, so wie man es macht, wenn einem auf der Straße jemand mit einer Behinderung über den Weg läuft? Wir sehen einfach durch die Leute hindurch, lenken ab, indem wir die Bedeutung dessen hervorheben, was wir sagen, statt darüber nachzudenken, wie schwer es uns fällt, andere anzusehen.
    Niemand sieht mich an. Niemand nimmt mich wahr. Ich bin ein Geist.

SECHSUNDDREISSIG
    OSCAR
    Diese Woche habe ich Bekanntschaft mit Master Reue und seiner hochwohlgeborenen Mutter, Lady Scham, gemacht. Wie hatte ich Wilson nur so schäbig behandeln können? Ich habe ihn wiederholt in ungebührlicher Weise verleumdet und mich abstoßendster Arroganz schuldig gemacht, indem ich ihn erbarmungslos in Hargreaves’ Gegenwart von oben herab behandelt habe.
    Zugegeben – Wilson entpuppte sich unzweifelhaft als ermüdender Tollpatsch und Ignorant, doch konnte ich doch nichts vom Ausmaß seines Kummers ahnen, ein Leid, das sein Selbstwertgefühl und seine Lebensfreude bis zum letzten Quäntchen getilgt haben muss. Wie hätte er auch lernen sollen, wo Kummer und Schmerz so unerbittlich an ihm nagen?
    Ich bin ein unbeholfener, unsensibler Narr. Gewöhnlich ist es unter meiner Würde, mich so ekelhaft zu geben, doch in diesem Fall habe ich mich als höchst abscheulicher Zeitgenosse präsentiert. Ich sollte von gewalttätigen psychopathischen Nonnen verprügelt

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