Irgendwas geht immer (German Edition)
dass er seine Arbeit so ernst nimmt, und ja, es schmeichelte mir, dass er meinen Rat suchte. Ich bin nicht mit ihm verwandt, außerdem liegt die Hälfte seines Praktikums schon hinter ihm, und er hat sich als höchst professionell und sehr engagiert entpuppt. Es spricht nichts dagegen, dass ich ein paar Supervisionssitzungen mit ihm abhalte. Es ist durchaus legitim und absolut vertretbar, okay, vielleicht ein klein wenig ungewöhnlich, bei dem Therapeuten in Supervision zu sein, bei dem man sein Praktikum macht, aber nicht völlig abwegig. Auch in diesem Punkt: alles normal. Nach einem kurzen Blick in unsere beiden Terminkalender baten wir Lisa, die letzte Stunde an diesem Tag für uns zu blocken. Ein völlig normaler Tag. Meine Patienten empfangen. Alles normal. Okay, sie sind natürlich nicht das, was man als normal bezeichnen würde, aber unsere Sitzungen sind normal verlaufen. Mittagspause. Alles normal. Ein Sandwich mit Thunfisch aus dem Laden an der Ecke geholt. Nicht normal. Ekelhaft, aber nichts, was mich aus der Fassung gebracht hätte. Patienten am Nachmittag. Relativ normal.
Vier Uhr. Zeit für die Therapiestunde mit Noel.
Er kam rein und setzte sich.
Irgendwie sah er viel zu groß für den Sessel aus. Als er seine Hose an den Knien hochzog, um es sich bequem zu machen, fiel mir auf, dass er keine Socken trug. Gebräunte Knöchel. Der Anfang war reine Routine. Ich sagte nicht viel, sondern forderte ihn auf, mir zu erzählen, was ihn beschäftigt. Er erklärte mir, seine Therapie habe bislang in erster Linie der Aufarbeitung eines schweren Verlustes in seiner frühen Kindheit gedient. Seine Mutter war gestorben und sein Vater nicht in der Lage gewesen, damit zurechtzukommen, so dass er den kleinen Noel in die Obhut seiner Schwiegermutter gegeben hatte. Noel war Einzelkind gewesen. Die Großmutter hatte sich als keineswegs unfreundliche, emotional jedoch eher unterkühlte Frau entpuppt, was sie auch früher schon gewesen war. Zu dem Zeitpunkt, als Noel zu ihr gekommen war, war sie nicht mehr die Jüngste gewesen und hatte leicht gekränkelt, weshalb das Zusammenleben mit ihr nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen war. Noel wandte den Kopf ab, als er mir erzählte, wie einsam und verlassen er sich gefühlt hatte. Und verantwortlich. Verantwortlich für seine Großmutter, für den Tod seiner Mutter und die Unfähigkeit seines Vaters – eine ganze Reihe an fehlgeleiteten Schuldgefühlen.
Wie es sich für einen Kleinianer gehört, hatte er die Ursachen bereits genauestens untersucht und schilderte mir, wie gut es ihm mittlerweile gelinge, sich deswegen nicht mehr verrückt zu machen. Er ging auf seine Neigung ein, Frauen aus tiefstem Herzen zu verehren und sich von einem bestimmten Frauentypus besonders inspiriert zu fühlen, wohingegen dies bei Männern so gut wie nie vorkomme. Bemerkenswert fand ich seine Aussage, dass es durchaus bewundernswerte Männer gebe, doch dass er möglicherweise durch den frühen Verlust seiner Mutter einen auffallenden Mangel an Kritikfähigkeit gegenüber Frauen besitze und sie geradezu pathologisch in den Himmel lobe.
All das war höchst faszinierend, da ich im Zuge meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nur sehr selten mit Phänomenen wie götzenähnlicher Verehrung zu tun habe. Dann fiel mir wieder ein, dass er irgendwann einmal erwähnt hatte, wie sehr er mich »bewundere«, und ich fragte ihn, ob dies möglicherweise symptomatisch für sein Verhalten sein könne. Er verstummte und saß einen Moment lang mit gesenktem Kopf da. Ich dachte, er lasse den Verlauf unseres Gesprächs noch einmal Revue passieren, als er aufsah, einen tiefen Seufzer ausstieß und anhob:
Die Dämmerung war apfelgrün,
der Himmel wie grüner Wein,
von der Sonne bestrahlt,
der Mond eine Blüte, ein goldenes Glüh’n.
Sie öffnete die Augen,
und grün schimmerten sie,
klar wie Blumen,
frisch erblüht, erstmals gesehen.
Währenddessen sah er mir die ganze Zeit in die Augen, als wolle er mich provozieren, den Blick abzuwenden. Keiner von uns sagte etwas. Ich hatte das Gefühl, auf einmal nicht mehr Teil meines Lebens zu sein. Was passierte hier? Ich hatte nichts in der Hand, keine Instrumente, keine Ahnung, wie ich mit der Situation umgehen sollte.
» D. H. Lawrence. Und es ist wahr, Mo. Vom ersten Moment an, als ich Sie gesehen habe …«, sagte er, dann stand er auf und ging hinaus. Und ich blieb zurück in meinem Zimmer, während seine Worte noch im Raum hingen. Ich war wie erstarrt vor
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