Irgendwas geht immer (German Edition)
einbilde, was nichts als ein Zeichen meiner überbordenden Phantasie ist. Werde ich zur Zielscheibe eines grausamen Scherzes meiner menopausengebeutelten Hormone? Hat mich mein gesunder Menschenverstand im Stich gelassen, so dass ich nur noch in klebrig-süßen Grußpostkartensätzen denken kann?
Ich fürchte, dieser emotionale Ausnahmezustand wird noch einige Tage anhalten. Zumindest bis zu unserem nächsten Therapiegespräch. Vielleicht bekomme ich ja dann ein paar Antworten, die mir helfen, das Undenkbare zu einem logischen Ganzen zusammenzusetzen.
Ich wünschte, ich würde mich nicht so sehnlichst auf diesen Tag freuen. Ich wünschte, ich könnte vernünftiger, rationaler sein. Aber das bin ich nicht. Gütiger Himmel, ich bin total nervös und zappelig.
SIEBENUNDVIERZIG
OSCAR
Heute war der Tag der Tage. Und ich würde gar sagen, ich habe mich gefreut wie ein Schneekönig, so stark war das Glücksgefühl, das ich verspürte. In dem Wissen, dass mir um Punkt halb fünf Uhr an diesem Nachmittag der goldenste Moment meines Lebens bevorstand, schien der Tag beschlossen zu haben, sich ansonsten von seiner unauffälligen Seite zu zeigen. Und so verbrachte ich einen gewöhnlichen Schultag, trist, sachlich und verabscheuenswürdig. Ich kassierte einen neuerlichen Verweis, weil ich mich strikt weigerte, für das Schlagballspiel in eines dieser beschämend unansehnlichen Trikots mit einer Nummer auf dem Rücken zu schlüpfen.
Es ist ohnedies eine Schmach unaussprechlichen Ausmaßes, sowohl für mich als auch für diejenigen meiner Klassenkameraden, die aufgrund ihrer mangelnden Sportlichkeit brutal aus der Gemeinschaft verstoßen werden, in jeder Sportstunde zur Teilnahme an diesem unerfreulichen Ritual gezwungen zu werden. Wir sind eine noble Truppe pflichtschuldiger Verweigerer, die vielmehr für ihren Mut geehrt werden sollten, weil wir uns diesen Leibeserziehungsfetischisten so tapfer entgegenstellen. Stattdessen werden wir verhöhnt und verspottet und öffentlich gedemütigt, indem man uns in geradezu beleidigend hässlichen Fetzen durch die Sporthalle rennen lässt. Ich bin keine Nummer, und ich werde auch niemals eine sein. Ich bin ein wunderbarer Mann, der andere mit seinem Charme zu verzaubern vermag, und werde nicht zulassen, dass diese hirnlosen Kretins mich weiterhin mit ihren albernen Spielchen vorführen.
Auf die Sportstunde folgte ein nicht minder abscheuliches Mittagessen in dieser abscheulichen Cafeteria, deren einzige Beständigkeit darin besteht, der Schülerschaft den abscheulichsten Fraß vorzusetzen. Es gelang mir noch nicht einmal, zwischen dem Fleisch und dem Gemüse auf meinem Teller zu unterscheiden, weil das Mahl in einer ekelhaft pampigen Sauce schwamm, die jede Identifikation unmöglich machte. Der einzige Lichtblick dieses Tages zeigte sich, als Wilson in Gefolgschaft einer Gruppe Neuntklässler mit piepsigen Stimmchen vorbeikam und mir unbemerkt einen Zettel zuschob. Interessant.
»Auch ich vermag zu verzaubern. Wann merkst du es endlich?«, stand darauf zu lesen.
Wie erwartet hat Wilson sich augenscheinlich in mich verliebt. Ich muss zugeben, dass auch ich ihn nicht gänzlich unsympathisch finde, fühle ich mich doch nun, da ich um seine Tragödie weiß, noch mehr zu seiner dramatischen, von Schmerz gezeichneten Schönheit hingezogen als zuvor. Das arme, bedauernswerte Würmchen. Manche schimpfen ihn schändlicherweise Waschlappen und Mädchen. Ich nicht. Denn nur ich allein weiß, welch abgrundtiefen Kummer und Schmerz er erdulden musste. Wenn auch von zarter und kleiner Statur, schlägt doch das Herz eines Löwen in seiner Brust. Ein heimliches Löwenherz. Ich wünschte, ich könnte seine Avancen erwidern, doch wäre es grausam, ihn in die Irre zu führen. Er weiß nur zu genau, dass mein Herz für einen anderen schlägt, und muss sich folglich mit dem Schicksal eines Daseins auf der Reservebank abfinden. Auf dem Thron meiner Zuneigung ist er zweifellos der Prinz, doch gibt es einen König, der mein Erscheinen bereits erwartete.
15:28, 15:29, 15:30 … wann läutet endlich diese infernalische Glocke? Wann befreit sie mich aus dieser Qual in Gestalt einer Doppelstunde Chemie bei Cooper, diesem alten Sack? 15:31. Eine Minute, die wie eine volle Stunde erscheint … und doch, da ist es. Ein kurzes und helles Läuten verkündet die Ankunft meines Glückes.
Ein kurzer Gang auf die Herrentoilette, um in dasselbe Outfit zu schlüpfen wie bei meinem letzten Besuch, ein strammer
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