Irgendwas geht immer (German Edition)
Zeit dran zu denken, dass ich meine Pille nehme, denn genau das müsste ich dann tun. Ich sagte: »Ja, das traue ich mir zu.« In diesem Augenblick habe ich Mum vor der Tür husten gehört, was bedeutet, dass sie die ganze Zeit gelauscht hat! Oberpeinlich! Ich hab sie im Auto auf dem Heimweg ziemlich zusammengestaucht, aber sie meinte, die Wände in der Arztpraxis seien papierdünn gewesen, deshalb hätte man alles hören können. Ja, herzlichen Dank auch, da will ich doch unbedingt sofort noch mal hin.
Aber es wird ein Riesenspaß, wenn ich gleich den Status auf meinem Facebook-Profil ändere, damit es alle meine Freunde sehen. Achtung, Status: Besitzerin von zwanzig neuen Kondomen! Sie hat mir zwanzig von den Dingern mitgegeben! Nicht zu fassen! Ich glaube, ich lade Lottie ein, damit wir ein paar davon aufmachen (aber nie mit den Zähnen, das hat sie ganz klar gesagt … und auch nicht mit der Schere …) und ein bisschen üben. Es wäre superwitzig, weil Mum ja jeden Morgen eine Banane zum Frühstück isst, und wenn sie genau die nehmen würde, auf die wir vorher die Kondome gestülpt haben … das wäre echt der Kracher. Würde ihr ganz recht geschehen, wo sie ja immer ihre Nase überall reinstecken muss.
Den ganzen Heimweg haben wir kaum ein Wort geredet. Keine Ahnung, aber im Moment ist sie ständig so drauf. Sie hasst mich. Ich hasse sie. Damit ist es wenigstens ausgeglichen. Zwei lächerliche Fragen, das war alles. Ehrlich. Wahnsinn. Die eine war, ob ich wüsste, woher Peter all die Knutschflecke am Hals und sogar einen im Gesicht hätte. Kein Kommentar, habe ich nur gesagt. Und die zweite war total sarkastisch. Sie hat mich gefragt, ob mir klar ist, dass nächste Woche meine Abschlussprüfung ist. Ja, meine reizende verrückte Mutter, das weiß ich, herzlichen Dank!
Scheiße! Nächste Woche ist Prüfung!
SECHSUNDVIERZIG
MO
Bereits mehrere Male habe ich heute einfach vergessen zu atmen. Ich kann von Glück sagen, dass mein Körper all diese zentralen Funktionen aus reiner Gewohnheit selbst erledigt, sonst könnte ich womöglich noch nicht einmal anständig gehen, reden, Auto fahren, arbeiten und all das. Meine innere Uhr scheint stillzustehen, ich fühle mich wie in einem zeitlichen Vakuum, und trotzdem funktioniere ich rein äußerlich wie gewohnt. Ich glaube nicht, dass es jemandem aufgefallen ist. Sie verhalten sich mir gegenüber wie sonst auch. Als wäre nicht mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden. Als wäre ich noch dieselbe Mo, die ich davor war. Aber das bin ich nicht mehr. Ich bin eine andere. Ich bin wach. Hellwach sogar.
Ich habe ihn jeden Tag gesehen, aber nie allein. Er hat keinerlei Skrupel, mir geradewegs in die Augen zu sehen. Wir besprechen nur das Allernötigste, trotzdem spüre ich, dass unter der Oberfläche etwas Unausgesprochenes brodelt. Ich habe das Gefühl, als wäre ich ein völlig neuer Mensch und als sei er der Einzige, der das erkennen kann. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich in ihm gespiegelt sehe, als jemand … keine Ahnung … als jemand anderer als vorher.
Und ich sehe ihn in einem völlig anderen Licht. Nun ja, ich sehe ihn. Ich mag sein blütenweißes Hemd, seine Armbanduhr mit dem echten Lederband, die Form seiner Schultern, seine langen Beine und die halbmondförmigen Furchen an seinen Mundwinkeln, die sich so bereitwillig zeigen, wenn er lächelt. Was er ziemlich häufig tut. Und dieses Lächeln … wieso sieht es außer mir niemand? Wieso fällt keinem auf, dass die Sonne aufgeht, wenn sich sein Gesicht zu diesem unglaublichen Lächeln verzieht? Wieso sind nicht alle davon geblendet? Es flutet durch den ganzen Raum. Es flutet durch mich hindurch.
So beschämend es klingen mag, aber ich habe mehrere Sitzungen abgekürzt, obwohl sich meine Patienten mitten in einer akuten Krise befanden, in der Hoffnung, ein paar Minuten mit ihm allein zu haben, in der Kaffeeküche, auf dem Flur oder sonst wo. Bislang ist kein einziges Wort zwischen uns gefallen. Und doch ist es, als wären ganze Bände gesprochen worden. Ich bin mir den lieben langen Tag über seiner Gegenwart überdeutlich bewusst. Es ist, als wären all meine Sinne nur auf ihn ausgerichtet. Ich weiß, in welchem Zimmer er sich aufhält, ich höre seine Schritte vor meiner Tür, und wo immer er gerade ist, möchte auch ich gern sein.
Aber natürlich kann ich ihm das nicht sagen. Noch nicht. Denn ich bin nicht sicher, ob ich nicht einfach nur den Verstand verloren habe und mir etwas
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