Irgendwas geht immer (German Edition)
Fußmarsch, und exakt um 16:20 Uhr stand ich in Mutters Praxis. Ich erblickte Mutter, die gerade einen »Teenager mit ein paar Problemen« aus ihrem Besprechungsraum verscheuchte. Sie begrüßte mich und verkündete, sie müsse möglicherweise meine einstündige Sitzung mit meinem geliebten Noel um ein paar Minuten verkürzen, um irgendwelche obskuren Dinge mit ihm zu besprechen. Eiligst stellte ich klar, dass dies unter keinen Umständen passieren dürfe. Vielmehr sei dieser Vorschlag geradezu infam, schließlich befände ich mich in einem Zustand, der seiner fundierten Therapie bedürfe. Außerdem stünde mir meine volle Stunde zu, herzlichen Dank. Glücklicherweise war sie klug genug, nicht weiter darauf zu beharren.
Ich genehmigte mir eine großzügige Dosis Pfefferminzmundspray und setzte mich auf den Stuhl vor Noels Zimmer. In diesem Moment dämmerte mir, dass dies möglicherweise meine letzten Augenblicke sein könnten, die letzten Sekunden meines Lebens VOR NOEL . Schon bald würde jenes »jetzt« zum »bevor« werden. »Bevor« wir zueinander gefunden hatten, »bevor« wir einander begegneten, »bevor« wir wussten, dass unser beider Zukunft unwiederbringlich miteinander verwoben war. Eines Tages würden wir lachen und diese Zeit als »damals« bezeichnen. Doch in diesem Moment waren wir im »Jetzt«, und dieses Jetzt war nichts im Vergleich zu der köstlichen Seligkeit, die mich in wenigen Minuten umhüllen würde. Die Schwelle seiner Tür würde das Portal zu meinem Paradies sein. Hätte ich sie erst einmal überschritten, gab es kein Zurück mehr. Genau so war es. Der Punkt ohne Wiederkehr. Der Beginn von allem. Hallo, neues Leben … Hallo …
»Hallo?«
Ja … »Hallo.« …
»Hallo Peter, habe ich dich erschreckt? Komm rein.«
Da stand er, unvermittelt, in all seiner Schönheit, vor mir und sprach mit mir. Ich folgte ihm ins Zimmer und setzte mich aufs Sofa. Doch kaum saß ich, verfluchte ich mich bereits im Geiste, als mir bewusst wurde, dass ich noch immer diesen abscheulichen Schulblazer trug. Ich hatte doch beabsichtigt, ihn gleich vor dem Schultor auszuziehen, um zu verhindern, dass Noel mich für einen albernen Schuljungen hielt. Doch es erschien mir unklug, mich nun von ihm zu befreien, hätte er doch nur unnötige Aufmerksamkeit auf sich gezogen, falls ich Mühe gehabt hätte, mich aus den Ärmeln zu befreien, doch blutete mir das Herz, ihm mein wunderbares Rüschenhemd vorzuenthalten, das ich nach dem letzten Mal einer tüchtigen Bleichbehandlung unterzogen hatte, um ihm etwas von seiner weißen Leuchtkraft zurückzugeben. (Zwar entpuppte sich dieses Unterfangen als nicht ganz so erfolgreich wie erwünscht, doch zumindest wies es nicht länger das triste Grau auf.) Ich dankte Gott für meine Geistesgegenwart, dass ich wenigstens eine Blume, eine orangefarbene Gerbera, aus dem üppigen Garten des Rektors gepflückt hatte, die nun keck in meinem Knopfloch steckte und mir damit den Blick meines Angebeteten sicherte.
Wenn ich mich recht entsinne, verlief das Gespräch folgendermaßen:
Noel: »Also, Peter«
Ich: »Oscar, bitte. Wenn Sie so freundlich wären.«
Noel: »Ich würde eigentlich lieber zuerst mit Peter sprechen.«
Ich: »Wie?«
Noel: »Könnte ich vorher zuerst mit Peter sprechen? Würde Oscar mir das erlauben?«
Ich: »Nun, ja natürlich, schließlich sind wir ein und dieselbe Person.«
Noel: »Das ist mir klar, trotzdem wäre es mir lieber, wenn Oscar uns für eine Weile allein ließe. Könntest du ihn darum bitten?«
Ich: »Verzeihung, aber das geht leider nicht.«
Noel: »Und mit wem spreche ich jetzt im Moment?«
Ich: »Nun, mein Freund, mit mir natürlich.«
Noel: »Und wer ist ›mir‹?«
Ich: »Nun, Peter. Und natürlich Oscar. Wie ich bereits sagte, wir sind ein und dieselbe Person.«
Noel: »Verstehe. Die Situation ist komplexer, als ich dachte.«
Ich: »Inwiefern?«
Noel: »Peter, du musst an die Oberfläche kommen, damit wir über Oscar reden können. Bitte, Peter, zeig dich.«
Ich: »Liebster Noel, Sie sprechen mit mir, als wäre ich tot. Und als wären Sie ein Medium. Bitte, es gibt doch so vieles zwischen uns zu sagen, lassen Sie uns nicht unsere kostbare Zeit mit diesem sinnlosen Geplapper vergeuden. Und jetzt spitzen Sie die Ohren und lassen Sie sich von mir …«
Noel: »Ich möchte doch nur mit Peter sprechen. Bitte.«
Ich: »Herzchen, wann werden Sie begreifen, dass ich Peter bin . Das ist
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