Irgendwie Top
Minuten zu spät. Mitleidige Blicke empfingen ihn und er nahm die vielen Bekundungen, er würde wirklich noch krank aussehen, und ob er nicht besser noch einen Tag länger zu Hause geblieben wäre, mit einem stoischen Lächeln entgegen. Bald schon war er zu beschäftigt, um über das heutige Treffen mit seinen Eltern und Alex nachzudenken. Oder überhaupt über das, was die letzten Tage passiert war.
Tim klingelte ihn zwischen drin an und Markus nutzte seine Pause, um ihn zurückzurufen.
„Hallo, Markus! Du kommst doch heute auch, oder? Mum röstet dich in Schweinefett, wenn du nicht dabei bist.“ Er klang aufgeregt.
„Keine Panik, Struppi, ich komme“, beschwichtigte ihn sein Bruder lächelnd und fügte spöttisch hinzu: „Will Mark etwa gleich um deine Hand anhalten?“ Tim gab ein unwilliges Geräusch von sich.
„Hör auf mit dem Scheiß!“, bellte er plötzlich ungehalten. „Das ist Quatsch. Ich will doch gar nicht heiraten. Nur weil ich schwul bin, bin ich doch nicht weibisch, und falls du es übersehen hast: Ich bin immer noch ein Mann. Heiraten und Kinderkriegen überlasse ich besser den Frauen.“
Markus zuckte überrascht zusammen. Was hatte er denn Falsches gesagt? Warum regte sich Tim darüber auf? Das war so gar nicht seine Art!
„Alles klar, Struppi?“ Derart heftig reagierte Tim normalerweise nur, wenn er emotional aufgewühlt war. Durch die Leitung vernahm Markus ein lautes Seufzen. Oder eher ein Schniefen? Heulte Tim?
„Ist schon okay. Ich … bin nicht so gut drauf.“
„Was ist los? Bist du etwa nervös wegen heute? Mum wird Mark lieben und Dad mag ihn doch sowieso schon. Kein Grund zur Panik.“ Erneut seufzte Tim.
„Daran liegt es nicht“, nuschelte er und gab leise zu: „Ich hatte heute ein wenig Ärger in der Schule.“
Das klang nicht gut. So wie Tim dabei die Stimme senkte, war es weit mehr als nur ein bisschen Ärger.
„Was ist passiert?“, fragte Markus alarmiert nach. Seit er nicht mehr zur Schule ging, hatte er keine Kontrolle darüber, wie die Mitschüler mit Tim umgingen. Damals hatte er ihm immer helfen können, hatte ihn beschützt. Seither war der Kleine auf sich alleine gestellt, allerdings hatte er nie zuvor erzählt, dass er Probleme hatte.
Ein weiteres Seufzen leitete Tims Erklärung ein. „Zwei Typen aus der Parallelklasse haben mich heute Morgen mit Mark auf dem Parkplatz im Auto knutschen gesehen. Das hat ihr heterosexuelles Weltbild anscheinend so erschüttert, dass sie mich in der ersten Pause geschnappt haben und es wieder gerade rücken wollten.“
„Scheiße!“ Kalte Wut stieg in Markus auf und er ballte augenblicklich die Fäuste. Homophobe Arschlöcher! Er würde sich die Kojoten schnappen, zur Brust nehmen und ihnen Manieren beibringen. Niemand fasste ungestraft seinen kleinen Bruder an.
„Was haben sie dir getan?“, brachte er mühsam beherrscht hervor, während Mord- und Foltergedanken Gestalt annahmen.
Tim lachte humorlos auf. „Sie haben mich herumgeschubst und beschimpft, meinten, dass ich ja schon wie eine Frau aussehen würde und es kein Wunder sei, wenn mich andere Kerle in den Arsch ficken wollten.“ Seine Stimme klang bitter. „Leider konnte ich meine dumme Klappe nicht halten und habe ihnen geantwortet, dass es durchaus was für sich hätte, sich ficken zu lassen, mein Freund es aber auch anders herum leiden mag.“
Markus sog scharf die Luft ein. So etwas sagte man ganz bestimmt nicht zwei homophoben Hornochsen, die einen gerade am Wickel hatten. Tim war viel zu lebensmüde und klein beigeben lag ihm einfach nicht. Damit hatte er sich auch früher schon in Schwierigkeiten gebracht, wenn seine große Klappe nicht mit den körperlichen Voraussetzungen hatte mithalten können.
„Oh Mann, Struppi!“ Markus stöhnte. Der Kleine konnte von Glück reden, dass er noch sprechen konnte und er ihn nicht auf der Intensiv besuchen durfte. Oder im Leichenschauhaus.
„Ja, ich weiß.“ Tim klang zerknirscht. „Ist keine so richtig gute Idee gewesen.“
„Was ist also passiert?“ Immerhin konnte Tim reden und er heulte nicht, zwei wichtige Voraussetzungen, dass es ihm noch einigermaßen gut ging.
„Sie haben mich eigentlich nur ein bisschen hin- und hergeschubst. Vornehmlich an die Wand und am Ende halt auch mal auf den Boden. Es ist nicht so viel passiert, nur meine Jeans ist jetzt total eingesaut, mein T-Shirt hat Flecken vom Nasenbluten und meine linke Gesichtshälfte sieht halt ein wenig angeditscht aus.“ Erneut
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