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Irgendwo ganz anders

Irgendwo ganz anders

Titel: Irgendwo ganz anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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ich ihn ermahnen, sich zusammenzureißen. Wir gelangten an ein paar Felsen und trafen zufällig einen Fischer. Er stand da und starrte benommen auf einen zerbrochenen Mast, der leise in dem geschützten Wasser eines Meeresarms schaukelte. Ein weiblicher Körper war an den Mast gebunden. Das lange braune Haar schwamm wie Seetang im Wasser, und die schreckliche Kälte hatte das Gesicht erstarren lassen, so dass es immer noch den Ausdruck einer namenlosen Angst trug, der letzten Empfindung vor dem Tode. Die Gestalt trug eine schwere Seemannsjacke, und ich watete in das eiskalte Wasser, um sie genau zu betrachten. Normalerweise hätte ich das nicht getan, aber hier stimmte etwas nicht. Es hätte der Körper eines kleinen Mädchens sein müssen – der Tochter des Kapitäns. Aber so war es nicht. Es war eine Frau mittleren Alters. Es war Wirthlass-Schitt. Ihre Wimpern waren mit gefrorenem Salzwasser verkrustet und sie sah mit leeren Augen und angstverzerrtem Gesicht in die Welt.
    »Sie hat mich gerettet.«
    Es war die Stimme eines kleinen Mädchens und ich drehte mich um. Sie war nicht älter als neun und in eine Daunenjacke von Goliath eingemummelt. Wie zu erwarten, sah sie verwirrt aus, hatte sie doch den Sturm seit mehr als hundertdreiundsechzig Jahren zum ersten Mal überlebt. Wirthlass-Schitt hatte nicht nur die Macht der BuchWelt und die elementare Energie der Lyrik unterschätzt ... sondern auch sich selbst. Obwohl die treue Pflichterfüllung für die Firma ihre oberste Priorität war, hatte sie ein Kind nicht einfach so ertrinken lassen können. Sie hatte getan, was sie für richtig hielt, und die Konsequenzen tragen müssen. Das war es, wovor ich sie hatte warnen wollen. Was man in der Lyrik entdeckt, ist ... der wahre Charakter. Ärgerlich war nur, dass ihre Tat vergeblich gewesen war. Ein Aufräumkommando von Jurisfiktion würde später vorbeikommen und kalt lächelnd alles wieder in Ordnung bringen. Das war der Grund, aus dem ich den sogenannten Reimkram nicht gerne übernahm.
    Colin, überwältigt von der Übermacht der Gefühle, die wie dicker Nebel in der Luft hingen, begann zu weinen. »Ach, unselige Welt!«, schluchzte er.
    Ich inspizierte Annes Hals und fand eine zarte Kette auf ihrer kalten Haut. Ich nahm sie an mich und dann begann ich zu überlegen. Hatte sie, wenn sie auf der Hesperus gewesen war, vielleicht Mycrofts Jacke mitgenommen?
    Die Seemannsjacke war steif wie Karton und ich zerrte am Kragen, um sie zu öffnen und einen Blick darunter zu werfen. Es war eine Enttäuschung. Sie trug weder Mycrofts Jacke noch hatte sie das Rezept in den Taschen, die ich gründlich durchsuchte. Ich nahm einen tiefen Atemzug, und durch das Gedicht verstärkt erreichten meine Gefühle einen absoluten Tiefpunkt. Wirthlass-Schitt hatte die karierte Jacke vermutlich an ihre Kollegen weitergegeben – und wenn sie inzwischen bei Goliath war, hatte ich nicht die allerkleinste Chance, sie in die Finger zu bekommen. Friday hatte mir den Schutz des LangZeitJetzt anvertraut, und ich hatte versagt. Ich watete ans Ufer zurück und begann zu schniefen; dicke salzige Tränen liefen mir über das Gesicht.
    »Ach, hören Sie doch auf zu flennen!«, sagte ich zu Colin, der neben mir in sein Taschentuch schluchzte. »Jetzt haben Sie mich auch noch angesteckt.«
    »Aber die Trauer legt sich wie ein dunkler Schleier über mein Antlitz!«, wimmerte er.
    Wir setzten uns ans Ufer neben den Fischer, der uns immer noch entgeistert ansah, und schluchzten still, als würde uns das Herz brechen. Das kleine Mädchen kam heran und setzte sich neben mich. Sie tätschelte mir tröstend die Hand.
    »Ich wollte überhaupt nicht gerettet werden«, verkündete sie.
    »Wenn ich überlebe, geht der ganze Witz des Gedichts flöten. Henry wird stinksauer sein.«
    »Mach dir keine Gedanken«, sagte ich, »das wird repariert.«
    »Und immerzu geben mir die Leute ihre Jacken«, fuhr sie empört fort. »Ehrlich, es wird heutzutage immer schwieriger zu erfrieren. Die hier hat Anne mir gegeben«, fügte sie hinzu und befummelte die dicke Daunenfüllung der Goliath-Jacke, »und dann habe ich noch die von dem alten Mann vor siebzehn Jahren.«
    »Wirklich, das tut im Moment nichts zur Sache –«
    Ich hörte auf zu weinen, denn die Sturmwolken meiner Trauer wurden plötzlich von einem dicken Sonnenstrahl durchbrochen.
    »Hast ... hast du sie noch?«
    »Na klar!«
    Sie zog den Reißverschluss der Goliath-Jacke auf und darunter kam eine großkarierte blaue

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