Irische Küsse
notdürftig ausgebessert waren. Offenbar eine Form der Bestrafung des Barons, wenn seine Untertanen sich nicht in der Lage sahen, ihre Abgaben zu entrichten.
Der Roggen auf den Feldern stand spärlich, die Halme waren von wucherndem Unkraut durchsetzt. Der Herbst versprach keine gute Ernte. Die ganze Gegend wirkte verwahrlost und verkommen. Eine unheimliche Stille lag über dem Dorf, das wie ausgestorben wirkte. Kein Mensch wagte sich vor die Tür, nirgends waren spielende Kinder zu sehen.
Ewan hielt die Hand am Schwertgriff, während er sich mit Trahern möglichst heimlich und unbemerkt näherte. Unterwegs begegneten ihnen zwei ausgemergelte zerlumpte Bauernknechte, die nicht einmal ihren Gruß erwiderten und einen völlig mutlosen Eindruck machten, als liege ihnen nichts mehr am Leben. Ewan gab seinem älteren Bruder mit einem Wink zu verstehen, rechts an der äußeren Burgmauer entlangzugehen, während er eine brüchige Stelle zur Linken untersuchen wollte.
Um von den Wächtern an den Burgtoren nicht erspäht zu werden, schlich er sich in gebückter Haltung durch das Gestrüpp. Das Loch in der Mauer war groß genug, um sich hindurchzuzwängen und in den Burghof zu gelangen. Plötzlich hatte er die Vorstellung, vielleicht in dem Spalt stecken zu bleiben, wie schon einmal. Mittlerweile war es für derlei Bedenken allerdings zu spät.
Vorsichtig schob Ewan sich durch die Maueröffnung. Verborgen hinter wuchernden Ranken wilden Weins spähte er in den Hof, in der Hoffnung, dass die Mauer nicht einstürzte und ihn unter sich begrub. Der Burghof war mit tiefen Erdlöchern übersät, offenbar hatte der Burgherr befohlen, den ganzen Hof auf der Suche nach dem legendären Schatz aufzugraben.
Männerstimmen wurden laut, darunter Ceredys’ barsche Stimme. Nicht weit von Ewan entfernt stand ein voll beladener Karren, der ihm Sichtschutz gab. Er wartete den richtigen Moment ab, dann rannte er in gebückter Haltung los und kroch unter den Wagen. Er konnte nur die Füße der Männer sehen, aber jedes Wort deutlich verstehen.
„Findet sie! Es kann nicht schwierig sein, den MacEgan-Clan in Éireann aufzuspüren. Ich will sie auf Ceredys zurückhaben.“
„Mylord, wir tun, was wir können.“
„Ihr hättet bei ihrer Flucht eure Pfeile auf beide abschießen müssen“, fluchte John. „Das elende Weib weiß, wo der Schatz liegt. Und ich spanne sie so lange auf die Folterbank, bis sie mir das Versteck verrät.“
Mehr brauchte Ewan nicht zu hören. Er musste so rasch wie möglich zu Honora zurück. Doch ehe er zur Mauer zurücklaufen konnte, sprengte ein Reiter im vollen Galopp in den Burghof und sprang aus dem Sattel.
„Mylord, sie ist hier. Vor Kurzem ist ein Boot in der Bucht gelandet.“
„Bringt sie augenblicklich zu mir“, befahl John.
„Wie Ihr wünscht, Mylord.“ Der Reiter räusperte sich. „Ihr sollt wissen, dass sie und ihre Begleiter nach etwas im Sand graben.“
„Ach, tatsächlich?“ Johns Stimme wurde unnatürlich weich. „Sattelt mein Pferd! Ich möchte die Lady of Ceredys willkommen heißen. Und bringt den Gefangenen.“
Ein Gefangener? Ewan blieb keine Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden, er musste Honora so schnell wie möglich zu Hilfe eilen. Ungeduldig harrte er aus, bis die Männer sich entfernt hatten, dann erst schlich er zur Mauer zurück. Anschließend zwängte er sich durch den Spalt und vergewisserte sich, dass Trahern außer Gefahr war. Danach rannte zu den Pferden.
Allem Anschein nach bot sich ihm früher als erwartet die Chance, John of Ceredys zu töten.
Da war nichts. Keine Spur von einem Schatz. Honora hatte die ganze Strecke abgesucht, die sie mit Marie so oft entlangspaziert war. Sie wusste ja nicht einmal, wonach sie suchen sollte.
„Es hat keinen Sinn“, sagte sie mutlos an die Männer gerichtet, obgleich ihnen ihre Sprache fremd war. Da sie sich nicht verständlich machen konnte, sah sie sich gezwungen, auf Ewan und Trahern zu warten. Ihre Ängste wuchsen. Sie hatte die beiden Brüder zwar gebeten, Männer aus dem Dorf für ihren Kampf zu gewinnen, jedoch konnte sie nicht einschätzen, ob die Leute Vertrauen zu ihnen fassen würden. Schreckensbilder stiegen in ihr auf, und sie bangte um das Leben der beiden MacEgans.
Sie sah Ewans Gesicht vor sich, sein zerzaustes blondes Haar, seine wachen grünen Augen. Er hatte sie nach England begleitet, obgleich er sein Leben damit riskierte.
Gestern Nacht war sie sich bewusst geworden, dass Ewan nicht mit anderen
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