Irische Küsse
bewusst, dass sie an seiner Stelle ebenso gehandelt hätte. Würde er sich einem Feind im Kampf stellen, den er nicht gewinnen könnte, würde sie ihm zur Seite stehen. Diese Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu, und sie senkte den Blick. Falls Ewan MacEgan etwas zustoßen würde, hätte ihr Leben seinen Sinn verloren. Sie liebte ihn.
Am Abend nahmen sie ein leichtes Mahl zu sich, aßen Brot, kalten Braten und Erbsen. Trahern blieb weiterhin stumm, obgleich sein jüngerer Bruder versuchte, ihn in ein Gespräch zu ziehen.
Bevor es Nacht wurde, wollte Honora Ewan um Hilfe bei der Entzifferung des Pergaments bitten. Sie holte den zerbrochenen Dolchgriff aus ihrem Gewand, zog das Röllchen hervor und reichte es ihm. „Ich habe mich entschlossen, den Schatz zu suchen. Es wäre gewiss in Maries Sinn, dass ich ihn finde, sonst hätte sie das Pergament nicht in meinem Dolchgriff versteckt.“
„Aber möglicherweise existiert der Schatz gar nicht.“
Das war ihr klar, aber falls es ihn gab, hatte Marie sich große Mühe gegeben, ihn vor Johns Zugriff zu sichern.
Ewan entrollte das Pergament. „Die Zeichen am unteren Rand scheinen Runen zu sein. Ich frage Conand. Die Vorfahren seiner Mutter ja waren Wikinger, vielleicht kann er sie entziffern.“
Er reichte dem Iren die Handschrift, sofort begann der die Runen aufmerksam zu studieren, wobei er die Lippen bewegte. Als er schließlich den Kopf hob, war in seinen Gesichtszügen Interesse und Furcht zu lesen. „Es ist ein Fluch, der jene trifft, die den Schatz der Götter heben wollen.“
Ewan machte sich am Segel zu schaffen, doch Honora wusste, dass er zuhörte. „Weiter“, forderte sie Conand auf.
„Die Vogelköpfe bedeuten Gold“, fuhr er fort. „Und derjenige, der es finden will, muss Ägirs Macht bezwingen.“
„Wer ist Ägir?“
„Ein Meeresriese, der die Züge eines Gottes angenommen hat.“
Diese Neuigkeit war sehr interessant. Marie St. Leger hatte das Meer geliebt und häufig lange Spaziergänge am Strand gemacht, zu denen Honora sie begleitete.
Wenn es einen Schatz gab, könnte er irgendwo entlang der Küste in der Nähe von Ceredys verborgen sein.
„Wir werden unser Lager in einer Bucht an der Küste Englands aufschlagen und den Strand absuchen“, sagte Honora, „Wenn ihr etwas findet, belohne ich euch mit einem Teil des Goldes.“
Die Augen der Männer leuchteten erwartungsvoll. Allen voran war Bres hellauf begeistert. Mit seinen knapp neunzehn Jahren erinnerte er Honora sehr an den jugendlichen Ewan.
Der legte sein Wams ab und faltete es zu einem Kissen. „Versuche zu schlafen, Honora. Ich übernehme das Steuer.“
„Wir wechseln uns alle ab“, korrigierte Trahern ihn.
Honora, die keine Ahnung vom Navigieren eines Schiffes hatte, überließ den Männern in diesem Fall gern die Führung. Sie legte den Kopf auf Ewans Kleiderbündel, um zu schlafen.
Das hätte sie nicht tun sollen. Dem Wams haftete noch seine Körperwärme und sein männlicher Duft an. Ihr war beinahe, als liege er neben ihr. Hitze strömte in ihren Leib, ihre Lider flatterten, und sie sah, wie er sie beobachtete.
Seine hohe Gestalt zeichnete sich scharf gegen den dunkler werdenden Abendhimmel ab. Er trug die Eisenrüstung, als sei sie ein Fliegengewicht. Unter dem Kettenhemd wölbten sich seine Muskeln an Schultern und Armen.
Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren.
Beunruhigende Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Sie drehte sich zur Seite, um ihn nicht anzusehen. Die Nachtluft kühlte ab, und sie schmiegte sich an die Bootswand, als könne das Holz sie wärmen.
Bald war es völlig dunkel, nur die Sterne am Himmel zeigten den Seefahrern den Weg. Ewan stand am Ruder, bis er von Bres abgelöst wurde. Kurz darauf spürte sie eine Bewegung.
„Honora“, flüsterte Ewan weich und zärtlich.
„Mir ist kalt“, gestand sie.
„Darf ich dich wärmen?“
Sie nickte, was er aber in der Finsternis nicht sehen konnte. „Ja, bitte“, sagte sie.
Er ließ sich neben ihr auf die Knie und zog sie näher zum Bug, weg von den Pferden und Männern, bis sie abgeschirmt von den anderen waren.
Sie schmiegte sich an ihn. Das kalte Eisen des Kettenhemds jagte ihr ein Frösteln über den Rücken.
Ewan zog sie auf seinen Schoß und hüllte beide in seinen Umhang. Sie barg die Wange an seiner Brust und konnte seinen Herzschlag hören.
Die Nacht war still. Nur das Knarren der Schiffsplanken, das leichte Schlagen der Segel im Wind und gelegentliches Hufescharren der Pferde
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