Irische Küsse
Männern zu vergleichen war. Statt die Rolle des Anführers zu übernehmen, hatte er ihr bereitwillig das Kommando überlassen und sich ihren Anordnungen gefügt. Er hätte sie auch zwingen können, in Éireann zu bleiben, um ohne sie in den Kampf zu ziehen. Stattdessen akzeptierte er sie als gleichberechtigten Kampfgefährten und stand ihr unbeirrt zur Seite. Er bedeutete ihr alles auf der Welt, und wenn dieser Kampf ausgestanden war, würde sie nie wieder von seiner Seite weichen.
Ein versonnenes Lächeln überflog ihre Gesichtszüge. Sollte es ihr gelingen, den St.-Leger-Schatz trotz aller Widrigkeiten zu finden, würde sie ihm jede Silbermünze aushändigen, damit er sich seine Träume erfüllen konnte.
Honora setzte sich auf einen Fels und ließ den Blick über die Morecambe Bay schweifen, dem Mündungsgebiet von fünf Flüssen, das weitläufige Salzwiesen aufwies. Bei extremem Niedrigwasser zog sich das Watt bis zum Horizont hin. Beinahe täglich war sie mit Marie durch die Priele und Salzwiesen gewandert, und Marie hatte sie immer wieder davor gewarnt, den Weg nicht zu verlassen. „Die Gezeiten sind unvorhersehbar, und du musst darauf achten, dich nicht zu lange im Watt aufzuhalten, sonst holt die Flut dich ein.“
Honora hatte immer wieder angespülte Leichen gesehen. Die Menschen waren ertrunken, überrascht von der Flut, und so hatte sie sich stets an Maries Warnung gehalten.
Nach einer Weile ging sie den Pfad durch das hohe Dünengras zum trockenen Ufer zurück. Marie, die im hohen Alter nicht mehr gut zu Fuß war, hatte ihr oft von ihrer Liebe zum Meer erzählt.
Und wieder dachte sie an das Pergament und den Gott Ägir. Sie legte die Hand schützend an die Augen und blickte aufs Wasser hinaus. Könnte der Schatz auf dem Meeresgrund verborgen sein? Dann wäre er wahrscheinlich unauffindbar, da die Gezeiten ihn ständig umformten.
Es sei denn …
Sie blickte zurück auf den Weg, den sie gegangen war, danach wieder aufs Wasser. Durch die einsetzende Ebbe kamen Sandbänke zum Vorschein, und bald wurde auch die Spitze eines Felsens sichtbar. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie in dem Felsbrocken die Form eines Vogels erkannte.
Sie winkte Bres und Conand zu sich und deutete mit dem Arm auf den Stein. Es blieb nicht allzu viel Zeit, bevor die Flut wieder einsetzte.
Der Fels war die einzige gleich bleibende Stelle im Watt, der einzige feste Punkt inmitten der sich ständig verändernden Sandbänke.
Als Conand sich Honora näherte, zeigte sie mit dem Finger auf den Lederbeutel an seinem Gürtel. „Den benötige ich, wenn du ihn entbehren kannst.“ Er begriff ihre Geste, löste den Beutel von seinem Gürtel und reichte ihn ihr. Dann wies sie auf den Felsbrocken, und Conand nickte zustimmend.
„Wir brauchen ein langes Seil.“ Sie deutete mehrmals auf die Schnur des Beutels und anschließend zum Schiff in der Ferne. Conand nickte wieder und sprach mit Bres, der augenblicklich losrannte und bald mit einem langen Tau wiederkehrte.
Honora wickelte sich ein Ende des Seils um die Faust, drückte Bres das andere in die Hand und begann, sich vorsichtig dem Stein zu nähern. Das Watt zog sich immer mehr in die Breite, doch langsam und unbeirrt näherte sie sich Schritt um Schritt dem Felsen. Die wagte nicht, schneller zu gehen, da sie dem tückischen unsicheren Untergrund nicht trauen konnte. Marie hatte ihr zu viele tragische Geschichten erzählt von Menschen, die durch den Sog des Wassers mitgerissen wurden, von Leuten, die in den Treibsand geraten und lebendig begraben worden waren.
Am Felsbrocken angekommen, tastete sie den von den Wellen glatt geschliffenen Stein ab, der tief im Sand eingegraben war, kniete davor nieder und untersuchte ihn nach Spalten und Rissen. Knapp unterhalb der Wasseroberfläche ertastete sie eine handtellergroße Aushöhlung. In diese steckte sie den Arm bis zum Ellbogen hinein, tastete sie mit ihren Fingern ab, bis die einen kleinen Gegenstand fanden. Aufgeregt griff sie danach. Doch bevor sie den Arm zurückziehen konnte, hörte sie klappernde Pferdehufe, die sich rasch näherten.
Ihr Herzschlag setzte vor Schreck aus, als sie oben auf den Dünen John of Ceredys erkannte. Die Farben seines Banners waren ihr nur zu vertraut. Wo war Ewan? Was auch immer geschehen war, es blieb ihr jetzt keine Zeit, die Suche fortzusetzen.
Sie hangelte sich am Seil zurück zum Ufer, wagte kaum schneller zu gehen, um nicht doch noch in den tückischen Treibsand zu geraten. Weiter
Weitere Kostenlose Bücher