Irische Küsse
Vater hatte ihr zu Recht vorgeworfen, sich hier zu verstecken. Ständig suchte sie nach Ausflüchten, um nicht zurückkehren zu müssen. Wie sollte sie an einen Neuanfang ihres Lebens denken, wenn so viele Menschen unerträgliches Leid erdulden mussten? In ihren Handflächen bildete sich kalter Schweiß, sie sah ihre Umgebung verschwommen wie durch einen Nebelschleier.
Ewan wartete am Ende der Halle, und als sie an ihm vorüberging, streifte seine Hand ihren Rücken. Die flüchtige Berührung gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, denn er würde nicht zulassen, dass John ihr folgte.
Katherine wünschte ihm eine gute Nacht und Ewan küsste ihr die Hand. Am Fuß der schmalen Wendeltreppe rief Ewan Honora nach: „Warum hast du Angst vor John of Ceredys? Hat er dir auf der Burg deines Ehemannes etwas angetan?“
Sie verharrte, legte die Hand an die kühle Mauer und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Ich habe keine Angst vor ihm.“ Sie hasste ihn. Bereits der Gedanke an ihn weckte in ihr den Wunsch, ihm den Dolch ins Herz zu stoßen. „Aber er ist eine Bedrohung für seine Untertanen. Und ich will, dass er aus meinem Leben verschwindet.“
Sie sagte nichts von seinen Drohungen gegen sie. Johns lüsterne Blicke hatten sie ständig verfolgt, als wolle er ihr die Kleider vom Leib reißen. Und nachdem er eine Magd geschändet hatte …
Sie schloss die Augen, als könne sie dadurch den Albtraum vertreiben. Zerstreut drehte sie eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
Ewan hob ihr das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Seine grünen Augen durchbohrten sie, als wolle er sie nötigen, ihm die Wahrheit zu gestehen. „Hat er dir Gewalt angetan?“
Honora erschauerte, wollte sich nicht erinnern. „Nein. Ich … ich habe mich gegen ihn zur Wehr gesetzt.“ Nach dem Tod ihres Gemahls hatte sie mit Marie St. Legers Hilfe Waffen in jeder Kammer der Burg versteckt. Ohne die Unterstützung ihrer Schwiegermutter wäre sie vermutlich Johns abartigen Trieben zum Opfer gefallen.
Ewan ahnte, was sie ihm verschweigen wollte, sein Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. „Soll ich ihn dir vom Hals schaffen? Ich spreche mit deinem Vater.“
Honora schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist auf Wunsch meines Vaters hier.“ Außerdem war Johns Zustimmung nötig, falls sie sich entschloss, wieder zu heiraten.
Nicht, dass dies von Bedeutung war, da sie ja nicht die Absicht hatte, sich wieder einem Mann unterzuordnen. Nach den Vorschriften der Kirche war ihr Stiefsohn John blutsverwandt mit ihr und konnte aus diesem Grund keinen Anspruch auf eine Ehe mit ihr erheben. Aber Honora war keineswegs so naiv, um darauf zu vertrauen, dass er sich durch ein Kirchengesetz davon abhalten lassen würde, sie gewaltsam zu nehmen.
„Du siehst nicht gut aus“, stellte Ewan mit Besorgnis fest.
Sah er ihr das so deutlich an? Ihr war, als müsse sie sich jeden Moment übergeben.
Er legte seine flache Hand an ihren Nacken. Die harmlose Berührung gab ihr Trost, den sie nicht erwartet hätte. Sein Daumen strich sanft über ihren Hals, ein Schauer rieselte ihr über den Rücken.
Wieso berührte er sie so vertraulich? Sie sollte gehen, sich der Wärme seiner Hand entziehen. Aber einen Augenblick lang genoss sie das Gefühl, beschützt zu werden.
Widerstrebend trat sie eine Stufe höher, und er nahm die Hand von ihr. „Ich muss gehen. Meine Schwester wartet auf mich.“
„Verriegle die Tür“, riet Ewan. „Ich behalte John of Ceredys im Auge. Er wird dir nichts antun.“
Auf der nächsten Stufe drehte sie sich noch einmal um. Ewans dunkelblondes Haar umrahmte sein markantes Gesicht. Einen flüchtigen Moment wünschte sie, er würde sie in die Arme nehmen. Sie sehnte sich nach starken Männerarmen, die ihr Halt geben und sie alles Elend vergessen lassen würden.
Rasch eilte sie die Stufen hinauf und fragte sich, wieso sie plötzlich ungehörige Sehnsüchte mit Ewan verband. Sie hatte kein Recht, auf diese Weise an ihn zu denken.
Hör auf damit, Honora. Vergiss ihn. Er begehrt Katherine, nicht dich.
Sie redete sich ein, dass auch sie ihn nicht begehrte. Sie hatte ihre Chance in einer Ehe gehabt und durch eigenes Verschulden versagt. Nicht nur das, nun vernachlässigte sie noch ihre Pflichten auf Ceredys. Dabei konnte sie nicht aufhören, an die Bewohner zu denken und sich sorgenvoll zu fragen, was sie in ihrer Abwesenheit erdulden mussten.
Was sollte sie nur tun?
Sie lehnte die Stirn an das kalte Mauerwerk. Der Vorschlag ihres Vaters, sie solle einen
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