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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Telegrammtexte zu entziffern, die heißen: »Eile geboten: Stop . Antwortet baldmöglichst .« Wird Siobhan je begreifen, was »baldmöglichst« heißt, ein Wort, das sie so korrekt mit ihrer Jungmädchenschrift aufs Telegrammformular schreibt, wobei sie nur aus dem ö ein oe macht?
    Wie dem auch sei: Siobhans Zukunft scheint gesichert, soweit etwas auf dieser Erde zu sichern ist; sicherer noch scheint, daß sie heiraten wird: sie hat Augen wie Vivien Leigh, und oft sitzt abends ein Jüngling mit baumelnden Beinen auf der Posttheke, und es findet einer jener spröden, fast stummen Flirts statt, wie sie nur bei glühender Liebe und fast krankhafter Schüchternheit möglich sind.
    »Schönes Wetter, nicht wahr ?«
    »Ja.«
    Schweigen, ein flüchtiges Ansehen, ein Lächeln, viel Schweigen. Siobhan ist froh, daß der Klappenschrank brummt.
    »Sprechen Sie noch? Sprechen Sie noch ?«
    Den Stöpsel herausgezogen; ein Lächeln, ein Ansehen, Schweigen, viel Schweigen.
    »Wunderbares Wetter, nicht wahr ?«
    »Wunderbar.«
    Schweigen, ein Lächeln, der Klappenschrank immer wieder als Rettung:
    » Here Dukinella , Dukinella here — yes .«
    Stöpseln. Schweigen. Lächeln mit den Augen der Vivien Leigh, und der junge Mann, diesmal mit fast brechender Stimme:
    »Fabelhaftes Wetter, wie?«
    »Ja, fabelhaft.«
    Heiraten wird Siobhan , aber den Klappenschrank weiter bedienen, weiter Briefmarken verkaufen, Geld auszahlen und das Petschaft mit der irischen Leier in den weichen Siegellack drücken.
    Vielleicht auch wird sie plötzlich der Koller überkommen, wenn der Wind wochenlang weht, wenn die Leute mit ihrem schrägen Gang gegen den Sturm ankämpfen, wenn der Regen wochenlang regnet, das Fernglas den Blick auf die blauen Inseln nicht freigibt und im Nebel der Rauch der Torffeuer tief hängt, dicht und bitter. Wie es auch sein wird, sie kann hierbleiben, und das ist eine unglaubliche Chance: von ihren acht Geschwistern werden nur zwei hierbleiben können; einer kann die kleine Pension übernehmen, und ein zweiter kann dort, wenn er nicht heiratet, mithelfen; zwei Familien ernährt die Pension nicht. Die anderen werden auswandern oder irgendwo im Lande Arbeit suchen müssen; aber wo und wieviel werden sie verdienen? Die wenigen Männer, die ständig hier Arbeit haben, am Hafen, beim Fischfang, beim Torfstechen oder am Strand, wo sie Kies sieben, Sand laden, diese wenigen verdienen fünf bis sieben Pfund die Woche (1 Pfund = 11,60); und wenn man einen eigenen Torfclaim hat, eine Kuh, Hühner, ein Häuschen und Kinder, die helfen, dann kann man davon gerade leben — in England aber verdient ein Arbeiter, wenn er Überstunden macht, wöchentlich zwanzig bis fünfundzwanzig Pfund, und ohne Überstunden mindestens zwölf bis fünfzehn; ein junger Bursche kann also, selbst wenn er zehn Pfund in der Woche für sich verbraucht, in jedem Falle noch zwei bis fünfzehn nach Hause schicken, und es gibt hier so manche Oma, die von diesen zwei Pfund, die ein Sohn oder Enkel schickt, und manche Familie, die von den fünf Pfund, die der Vater schickt, lebt.
    Sicher ist, daß von den neun Kindern der Mrs. D. fünf oder sechs werden auswandern müssen. Wird der kleine Pius, der eben von seinem ältesten Bruder geduldig geschaukelt wird, während die Mutter für ihre Pensionsgäste Spiegeleier brät, Marmeladentöpfchen füllt, weißes, braunes Brot schneidet, Tee aufgießt, während sie im Torffeuer Brot bäckt, indem sie den Teig in die Eisenform legt und Torfglut über die Form häuft (es geht übrigens schneller und ist billiger als im elektrischen Herd) — wird dieser kleine Pius in vierzehn Jahren, im Jahre 1970, auch am 1. Oktober oder 1. April, vierzehnjährig, mit seinem Pappkoffer in der Hand, mit Medaillen behangen, mit einem Extrapaket besonders gut belegter Brote, von seiner schluchzenden Mutter umarmt, an der Bushaltestelle stehen, um die große Reise anzutreten, nach Cleveland, Ohio, nach Manchester, Liverpool, London oder Sydney zu irgendeinem Onkel, einem Vetter, einem Bruder vielleicht, der versichert hat, er werde sich um ihn kümmern und etwas für ihn tun?
    Diese Abschiede auf irischen Bahnhöfen, an Bushaltestellen mitten im Moor, wenn die Tränen sich mit Regentropfen mischen und der atlantische Wind weht; der Großvater steht dabei, er kennt die Schluchten von Manhattan, kennt die New Yorker Waterfront , er hat dreißig Jahre lang die »Faust im Nacken« gespürt, und er steckt dem Jungen schnell noch eine Pfundnote zu, dem

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