Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
jetzt wieder ein abgelegenes Treppenhaus und wenig frequentierte Gänge benutzend, führte Mulligan uns zu Watsons Büro, das nicht nur ebenfalls in einem Seitentrakt des Gebäudes lag, sondern vor allem durch seine Größe glänzte – beziehungsweise deren Abwesenheit. Obwohl aus zwei Zimmern bestehend und mit einem großzügigen Fenster ausgestattet, war es nicht nennenswert geräumiger als meine Kombination aus Schlafraum und Büro, und auch das Mobiliar erschien mir kaum weniger betagt als mein eigenes.
Immerhin gab es eine Kommode mit einer kleinen Waschgelegenheit, die Allison unverzüglich ansteuerte, während ich mich diskret umwandte und die Gelegenheit gleich nutzte, um mich an Mulligan zu wenden. »Rufen Sie einen Arzt, der sich um Miss Carter kümmert!«
»Das wird Doktor Watson gleich machen«, antwortete Mulligan. »Sobald er mit dem Bengel fertig ist.«
»Der Bengel «, versetzte ich scharf, wobei ich mich beherrschen musste, um nicht noch lauter zu werden, »hat einen Namen, Mulligan! Und Sie werden sofort einen Arzt rufen! Sehen Sie sich Miss Carter doch an!«
»Ja, vielen Dank auch für das Kompliment«, sagte Allison hinter mir. Ich hütete mich, zu ihr zurückzusehen und mich an ihrem Blick zu verbrennen, doch ich konnte hören, wie sie die Hände in die Waschschüssel tauchte.
»Doktor Watson kommt bestimmt so schnell er kann«, versicherte Mulligan nervös. »Und ich … ich darf keinen anderen Arzt holen! Auch nicht Doktor Jefferson oder Doktor Harris, die auf anderen Stationen Dienst tun.«
»Wieso nicht?«, hakte Nikola nach.
»Weil ich …« Mulligan fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Kinn. »Captain Adler hat es verboten«, bekannte er schließlich. »Niemand darf mit Ihnen reden oder … oder den anderen.«
»Captain Adler?«, wiederholte Nikola grimmig. »Nun, Captain Adler wird sich vielleicht schon sehr bald mit den besten Anwälten der ganzen Stadt auseinandersetzen müssen, wenn Miss Carter ihn auf Schadenersatz und Schmerzensgeld verklagt oder gar bleibende Schäden zurückbehält, weil ihre Verletzungen zu spät behandelt worden sind.«
In Mulligans sommersprossigem Gesicht war es schwer zu erkennen, aber mir entging trotzdem nicht, wie blass er plötzlich wurde. »Aber ich … ich sage doch nur …«
»Lassen Sie den armen Mann in Ruhe, Nikola«, sagte Allison. »Er tut schließlich nur, was man ihm befohlen hat. Wenn Sie jemanden brauchen, auf dem Sie herumtrampeln können, dann suchen Sie diesen Captain.«
»Worauf Sie sich verlassen können«, versicherte Nikola. Er zielte mit dem ausgestreckten Zeigefinger wie mit einer Waffe auf Mulligans Brust. »Sie bringen mich jetzt zu ihm!«
Selbst dieser irische Sturkopf war wohl klug genug, einzusehen, wann es keinen Sinn mehr hatte weiterzukämpfen, denn er schluckte schwer, nickte aber dann nur umso hastiger und hatte es plötzlich sehr eilig, uns zu verlassen. Nikola folgte ihm so dichtauf, dass die beiden unter der Tür um ein Haar zusammengestoßen wären.
Ich drückte die Tür hinter ihnen ins Schloss, bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Allison immer noch damit beschäftigt war, sich zu säubern, und trat diskret ans Fenster, um so lange hinauszusehen, bis sie fertig war.
Den Anblick als deprimierend zu bezeichnen wäre geschmeichelt gewesen. Aus dem leichten Nieseln war ein schwerer Regenfluss geworden, und der Himmel hatte sich nicht nur noch weiter zugezogen, vom Meer her näherte sich jetzt auch eine Wand aus schwarzen Wolken, in der es immer wieder stroboskopisch aufleuchtete. Seltsamerweise hörte ich kein einziges Donnern mehr, aber ich meinte das elektrische Knistern der Blitze wie die Berührung von Spinnweben auf dem Gesicht zu spüren.
Allisons Vergleich von gestern fiel mir wieder ein, als ich auf den Innenhof hinabsah, eine leicht asymmetrische Raute, die an drei Seiten von nassen Backsteinwänden mit einer Unzahl vergitterter Fenster und an der vierten von einer zwanzig Fuß hohen Mauer gebildet wurde, die eine hässliche Krone aus Glasscherben und Stacheldraht trug. Allison hatte recht gehabt, dachte ich betrübt. Dieses sogenannte Krankenhaus sah nicht nur aus wie ein Gefängnis, es war schlimmer, denn die Insassen eines Zuchthauses hatten wenigstens noch ein Minimum an Rechten.
Das Scharren eines Stuhles verriet mir, dass Allison fertig war und sich gesetzt hatte, also wandte ich mich vom Fenster ab und nahm ebenfalls Platz. Erst dann raffte ich all meinen Mut zusammen und sah ihr
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