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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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besteht, aber wir sollten kein Risiko eingehen.« Er deutete auf den schlafenden Jungen auf dem Bett. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
    » Uns? «, fragte Allison, wieder in spitzerem Tonfall.
    Nikola verzichtete klugerweise auf eine Antwort. Ich konnte nun nicht mehr anders, als das zu tun, was ich mehr oder weniger erfolgreich vermieden hatte, seit wir hereingekommen waren: nämlich, den schlafenden Jungen anzusehen.
    Chip bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Er lag nur mit einer zerschlissenen Unterhose bekleidet auf dem Bett, sodass man deutlich sehen konnte, wie abgemagert er war. Ich glaubte nicht, dass er noch nennenswert mehr als fünfzig oder sechzig Pfund wog. Seine Haut sah aus wie hundert Jahre altes Pergament, auf dem schon mindestens ebenso viele Texte aufgeschrieben und wieder gelöscht worden waren. Die Rippen und Gelenke stachen wie Messer durch die Haut, und den Anblick seines Gesichtes zu ertragen fiel mir wirklich schwer. Es sah aus wie ein Totenschädel, der mit schmutzigem Sackleinen überzogen worden war, und es hatte nicht nur mehrere Zähne verloren, sondern auch einen Gutteil seines Haars.
    Das Gesicht eines Greises auf dem Körper eines verhungerten Kindes, ein Anblick, der mir schier die Kehle zuschnürte. Und das technische Hexenwerk, das Nikola um sein Bett herum aufgestellt hatte, machte den Anblick irgendwie noch schrecklicher. Aus den zwei Kupferstäben waren vier geworden, die mir auch deutlich größer vorkamen als die, die ich vorhin unten im Keller gesehen hatte, und zahlreiche Kabel und blitzende Kupferdrähte schlängelten sich um und über Chips ausgemergelten Körper; ein Anblick, der mich aus gegebenem Anlass an ein metallenes Spinnennetz erinnerte.
    »Dann lassen Sie uns anfangen«, sagte Watson. Ich konnte ihm ansehen, wie schwer ihm diese Worte fielen.
    »Sind Sie sicher?«, fragte Allison.
    »Nein«, antwortete Watson. »Aber er lebt vielleicht noch eine Stunde. Eigentlich müsste er schon tot sein. Fangen Sie an.«
    Nikola streckte auch prompt die Hand nach seinem Drehschalter um, zögerte aber dann noch einmal und sah zu Allison hoch. »Ich habe die Spannung noch einmal erhöht. Vielleicht treten Sie besser ein Stück weiter zurück.«
    Allison wich gehorsam bis zur Tür zurück, was Nikola aber noch nicht zu genügen schien. »Nicht unbedingt unter einen Türrahmen aus Metall«, sagte er.
    Allison ging hastig zwei Schritte weiter bis auf den Flur zurück, und Nikola führte seine angefangene Bewegung zu Ende und drehte den Schalter bis zum Anschlag. Das mir schon vertraute Summen erklang, und unzählige winzige Funken jagten einander zu den Spitzen der Kupferstäbe hinauf.
    Im allerersten Moment war das alles, was geschah. Im zweiten ebenfalls und auch noch so lange, wie Nikola brauchte, um die Stirn zu runzeln und einen besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht erscheinen zu lassen.
    Dann schrie Chip, ein hoher, gellender Laut, der sich nicht wirklich so anhörte, als stammte er aus einer menschlichen Kehle. Er bäumte sich auf, als wäre in seinem Körper plötzlich eine gewaltige stählerne Feder losgelassen worden. Ich hörte einen Laut, der mich auf grässliche Weise an das Geräusch von zerbrechendem Holz erinnerte, aber aus Chips Leib zu kommen schien. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Allison die Hand vor den Mund schlug und eine Bewegung machte, wie um hereinzustürzen, dann aber ganz im Gegenteil entsetzt zurückprallte. Doch der schauerliche Anblick schlug mich zugleich auch zu sehr in den Bann, um darauf zu reagieren.
    Und es war noch nicht vorbei, sondern schien gerade erst anzufangen. Chip schrie noch einmal und sank dann mit erschreckender Plötzlichkeit wieder auf das Bett zurück. Sein Kopf rollte zur Seite, und blutiger Schaum erschien auf seinen Lippen.
    Und nicht nur dort.
    Zuerst glaubte ich, es sei Schweiß, der ihm schlagartig und am ganzen Leib ausbrach, doch das war es nicht.
    Es war Blut.
    Unzählige winzige rote Tröpfchen erschienen wie schimmernde Stecknadelköpfe überall auf seiner Haut und liefen zu roten Rinnsalen und Strömen zusammen, sodass er nach kaum einer halben Minute wie lebendig gehäutet aussah.
    Und endlich überwand ich meine Erstarrung und wollte zu ihm, doch Nikola legte mir rasch seine Hand mit gespreizten Fingern auf die Brust, um mich zurückzuhalten, und auch Watson schüttelte den Kopf.
    »Lassen Sie ihn«, sagte er.
    »Nur noch einen Moment«, fügte Nikola hinzu. »Wenn wir zu früh aufhören, dann

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