Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
Entsetzliche war, dass ich ihm glaubte. Das Hive war tatsächlich niemandes Feind, so wenig, wie es irgendjemandes Freund war. Konzepte wie Freundschaft und Feindschaft waren diesem streng logisch funktionierenden Intellekt vollkommen fremd.
Aber das machte es nicht besser, sondern nur noch viel, viel schlimmer, denn wie konnte man hoffen, gegen einen Feind zu bestehen, der mit der Präzision einer Rechenmaschine handelte und plante, der sich keine Schwächen und Fehler erlaubte und dem Zeit so bedeutungslos war, dass er in Jahrzehnten planen konnte, wie ein menschlicher General in Wochen?
Ich war fast froh, nicht mehr miterleben zu müssen, wie dieser ungleiche Kampf irgendwann endete.
»Ihr solltet gehen«, fuhr der Maschinenmann fort. »Euer Freund, der Captain, wird bald hier sein. Und er wird Fragen stellen.«
Watson blinzelte. »Du … du lässt uns … gehen?«
»Euer Tod brächte uns keinen Vorteil«, antwortete das Hive. »Wir sind stark, aber ihr seid zu viele. Noch.« Er gab der Spinne einen Wink, und sie setzte ihren Weg fort, blieb vor mir stehen und richtete sich auf die hinteren beiden Beinpaare auf. Ihre beiden vorderen Gliederpaare ruhten auf meinen Schultern, und die mörderischen Fänge blitzten nun unmittelbar vor meinem Gesicht.
»So viel zu deinem Versprechen, uns nichts zu tun«, sagte ich und redete mir sogar mit einigem Erfolg ein, dass meine Stimme nicht vor Angst zitterte.
»Aber wir tun dir nichts, keine Angst.« Er wies auf die Spinne, und mir wurde klar, dass er ihr damit zugleich auch einen Wink gab. Doch was hätte ich tun sollen? »Es ist unser letztes Geschenk an Sie, Mister Devlin.«
Und damit bohrten sich die messerscharfen Zangen der Spinne in meinen Hals, nicht sehr tief und auch nicht für lange. Es tat nicht einmal besonders weh.
Aber etwas anderes und vollkommen Unerwartetes geschah.
Ich spürte Allison in mir.
Nicht ihre Erinnerungen, nicht ihre Körperlichkeit oder gar ihre Gedanken, sondern nur jenen winzigen Teil von ihr, der im Kollektiv zurückgeblieben war und nun zu einem Teil von mir wurde und der bewies, dass die Schwarmintelligenz mir auch in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte: Auch wenn Allison und ich uns nur wenige Tage gekannt hatten, so hatte sie mich doch mit derselben Aufrichtigkeit und Intensität geliebt wie ich sie.
Glaubte dieses Ungeheuer tatsächlich, mir mit diesem Wissen ein Geschenk gemacht zu haben?
»Wir werden diesen Ort verlassen, sobald die Zeit reif ist«, sagte die unbegreifliche Wesenheit. »Und wir werden warten. Vielleicht zehn Jahre, vielleicht hundert. Es spielt keine Rolle. Diese Welt gehört nicht mehr euch allein.«
»Das wird … niemals geschehen«, sagte ich mühsam. Ich war fast von Sinnen vor Angst, und beinahe noch schlimmer war das Gefühl der Hilflosigkeit. Nichts, was Menschen taten, bedeutete noch irgendetwas. Es war so, wie ich selbst es gerade gedacht und das Hive es gesagt hatte.
Wir hatten Leben erschaffen. Und ob es nun noch zehn Jahre dauern mochte, hundert oder auch zweihundert.
Diese Welt gehörte uns nicht mehr allein.
Über den Autor
Autorenfoto: © www.hohlbein.de
Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist der erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor der Gegenwart. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch Märchenmond. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de
Originalausgabe © 2014 INK
verlegt durch Egmont Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Umschlag- und Einbandillustration: © Geoffrey Ernault
Lektorat: Dieter Winkler
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN : 978-3-86396-563-1
www.egmont-ink.de
Die EGMONT Verlagsgesellschaften gehören als Teil der EGMONT -Gruppe zur EGMONT Foundation – einer gemeinnützigen Stiftung, deren Ziel es ist, die sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Weitere ausführliche Informationen zur EGMONT Foundation unter:
www.egmont.com
Weitere Kostenlose Bücher