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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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funktionierte der Trick nicht, und der Tabakqualm machte es eher noch schlimmer. Es stank nach geronnenem Blut und nassem Fell und Öl und Ruß und Wagenschmiere und verdorbenen Lebensmitteln, nach Katzenpisse und faulendem Wasser und hundert anderen Dingen, die allesamt unangenehm waren und in ihrer Summe augenblicklich erneut ein Gefühl latenter Übelkeit in mir weckten. Ich verspürte ein Rumoren in den Eingeweiden, das das Potenzial hatte, bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung zu etwas weit Unangenehmerem zu werden.
    »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, warnte Chip. »Hier kann man leicht zu Schaden kommen.«
    Ich trat erst einmal nirgendwohin, sondern blieb stehen, damit sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnen konnten. Ich hatte ein vages Gefühl von Weite, das mich zugleich aber auch zu erdrücken schien, so absurd es mir auch selbst vorkam. Chip hatte recht. Ich sollte nicht nur aufpassen, wo ich hintrat, sondern auf dem Absatz kehrtmachen und von diesem unheimlichen Ort verschwinden, so schnell ich nur konnte. Sollte dieser dahergelaufene Straßenjunge doch von mir denken, was er wollte!
    Stattdessen blinzelte ich ein paarmal heftig, und um zusätzliche Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Was war das hier früher einmal?«
    »Weiß nicht. Ein Schlachthof. Vielleicht. Oder sie haben hier nur die Felle und die Haut verarbeitet. Warum?«
    Eine ehemalige Gerberei würde zumindest den aufdringlichen Geruch nach Chemikalien und Tod erklären, aber eigentlich konnte ich nicht einmal genau sagen, warum ich diese Frage überhaupt gestellt hatte, denn es interessierte mich auch nicht. Über den Niedergang Belfasts in dem ständig von Hungerkatastrophen bedrohten Irland waren schon zahllose kluge Artikel verfasst und viele noch klügere Bücher geschrieben worden, eloquente Abhandlungen über die Gründe besagten Niedergangs und düstere Warnungen, dass alles nur noch viel schlimmer werden konnte. Die einen meinten, dass nur eine engere Anlehnung Irlands an das englische Parlament helfen könnte, den drohenden Niedergang zu verhindern, die anderen kämpften für eine eigene Verfassung und Selbstverwaltung oder sogar die völlige Loslösung vom Britischen Empire, in der sie die einzige Chance sahen, Irland in eine bessere Zukunft führen zu können.
    Ich war für mich selbst schon zu einer viel simpleren Erklärung gekommen: Die Dinge änderten sich, unerbittlich und immer und unaufhaltsam, und jeder musste für sich sehen, wie er mit diesem Wandel der Zeiten zurechtkam. So einfach war das.
    Meine Augen hatten sich umgestellt. Ich sah immer noch nicht viel, aber wenigstens genug, um nicht unversehens in einen jäh aufklaffenden Abgrund zu stürzen oder mich an irgendeiner heimtückischen Kante aufzuspießen, die auf mich lauerte.
    Es gab keine Abgründe. Der Boden war massiv und mit einer klebrigen schwarzen Schicht bedeckt, auf der unsere Schritte unangenehme Sauggeräusche verursachten. In dem wenigen Licht, das meinen Augen blieb, erkannte ich kaum mehr als gedrungene finstere Umrisse, die gefährlichen Raubtieren gleich in der ewigen Dämmerung lauerten. Wie eiserne Spinnweben hingen Ketten von der Decke, die sich höher über unseren Köpfen erhob, als mein Blick reichte, und irgendwo tropfte regelmäßig eine Flüssigkeit; kein Wasser, eher etwas Dickflüssigeres. Obwohl es bei Weitem nicht das erste Mal war, dass ich einen solch heruntergekommenen Ort sah, hatte ich das Gefühl, eine vollkommen fremde Welt zu betreten, einen Winkel der Schöpfung, in dem Menschen nicht willkommen waren und auch nicht sein sollten.
    Das irritierte mich. Ich hielt mich vollkommen zu Recht für einen rationalen Menschen, zu dem solcherlei krudes Zeug gar nicht passte. Aber ich wurde das unangenehme Gefühl, hier vollkommen fehl am Platz zu sein, auch nicht los.
    »Wohin?«, fragte ich knapp. Selbst an diesem einzelnen Wort war etwas … unpassend , als wäre allein der Klang einer menschlichen Stimme an diesem Ort ein Frevel, der nicht ungesühnt bleiben konnte.
    Ich ahnte Chips deutende Geste mehr, als dass ich sie sah. Eine der Ketten rasselte, als hätte er sie berührt, doch das konnte nicht sein, denn er stand ein gutes Stück entfernt. »Wir müssen durch die Halle und dann einfach die Treppe runter.«
    Seltsamerweise klang seine Stimme nicht annähernd so deplatziert wie meine eigene, sah man von einem leicht metallischen Unterton ab, als redete er mit Stimmbändern aus Eisen. Sicher eine Folge der verwirrenden

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