Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
im Folgenden der Versuch unternommen, dem geneigten Leser die gesamte Psychiatrie und Psychotherapie auf dem heutigen Stand der Wissenschaft allgemeinverständlich zu präsentieren. Allerdings ohne die segensreichen Wirkungen der inzwischen um sich greifenden absurden Lachgruppen zu berücksichtigen, in denen man sich nicht tot-, sondern gesundlacht, wohl aber mit einer gehörigen Prise Humor.
I Warum überhaupt behandeln?
1. Knapp vorbei ist auch daneben - Wenn Irrenärzte irren
Ich war geschockt. Gerade hatte ich mit einem katholischen Psychiater über meine ersten Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie gesprochen. Und was dieser fachlich hochqualifizierte sympathische Kollege mir da im Plauderton sagte, das fand ich empörend. Ihm habe immer besonders imponiert, auf welche Art und Weise der heilige Franz von Assisi mit seiner Schizophrenie umgegangen sei. Franz von Assisi schizophren! Das schlug dem Fass den Boden aus. Ich hatte, wie viele andere Menschen, Franz von Assisi immer geschätzt. Der »Poverello« aus Umbrien hatte die mittelalterliche Schickeria aufgemischt, war für radikale Armut eingetreten, hatte die Schöpfung wiederentdeckt, den Vögeln gepredigt. Merkwürdig war der gegen seinen Vater rebellierende umtriebige Industriellensohn wohl, aber schizophren? Ich ließ noch einmal die bekannte Lebensgeschichte des volkstümlichen Heiligen vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen und versuchte dann, die gerade frisch gelernten psychiatrischen Begriffe darauf anzuwenden. Und tatsächlich, das Resultat war erschreckend. Der Kollege schien recht zu haben! Franz von Assisi hatte zweifellos akustische Halluzinationen imperativen Charakters, das heißt, er hat Stimmen gehört, die ihm Befehle erteilten, und so etwas galt als erstrangiger Hinweis auf Schizophrenie. In San Damiano, einem kleinen, verfallenen Kirchlein in der Nähe von Assisi, hatte Franz von einem Kreuz die Stimme Jesu gehört: »Bau meine Kirche wieder auf!« Er hatte das nicht abstrakt aufgefasst, sondern ganz konkret, geradezu »konkretistisch«, wie Psychiater sagen, und hatte Stein auf Stein das Gotteshaus wiederaufgebaut. Man stelle sich plastisch vor, morgen würde sich ein junger Mann in abgerissenen Klamotten im Einzugsbereich meines Krankenhauses daranmachen, eine kleine verfallene Kapelle, die ihm gar nicht gehört, wiederaufzubauen. Passanten würden das bemerken, die Polizei würde herausgeschickt
und auf die Frage, was er da mache, würde der junge Mann strahlend behaupten, eine Stimme von einem Kreuz habe ihm das befohlen. Hand aufs Herz: Wahrscheinlich hätten wir demnächst wieder einen neuen Patienten. Im Grunde doch ein klarer Fall! Oder etwa nicht?
Mir ließ das Problem keine Ruhe. Ich fand die Lösung ein wenig zu simpel. Sollten etwa all die außergewöhnlichen Menschen aller Völker, die mitunter auch merkwürdige Erlebnisse gehabt hatten, in Wirklichkeit gar nicht außergewöhnlich, sondern schlicht verrückt gewesen sein: Buddha, Johannes der Täufer, Kaiser Konstantin, Luther und schließlich auch der heilige Franz? Dass der berühmte Psychiater Kurt Schneider eine bestimmte Form von akustischen Halluzinationen als »Symptome ersten Ranges« für die Diagnose einer Schizophrenie genannt hatte, war unbestritten. Dass man später auch befehlende Stimmen dazurechnete, ebenfalls. Doch irgendetwas konnte an der ganzen Sache nicht stimmen. So vertiefte ich mich in die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie - und kam zu einem überraschenden Ergebnis.
Der Begriff Psychiatrie kommt aus dem Griechischen. Psyche heißt Seele und Iatros heißt Arzt. Die einzige wirkliche Aufgabe von Ärzten ist es, leidende Menschen zu heilen oder ihr Leid wenigstens zu lindern. Zu diesem Zweck - und nur zu diesem Zweck! - brauchen Ärzte Diagnosen. Die Diagnose ist also, wie schon Aristoteles erkannt hat, eine ganz besondere Erkenntnisform. Eine Diagnose ist keine Erkenntnis an sich, wie die Erkenntnisse der Naturwissenschaft. Die Diagnose ist von ihrem Wesen her eine zweckgerichtete Erkenntnis. Und der einzige Zweck der Diagnose ist die Therapie, die Behandlung von leidenden Menschen. Das Leid psychisch kranker Menschen besteht nicht nur in der Last der sie bedrängenden außergewöhnlichen Phänomene. Ihr Leid besteht auch in einer oft tiefgreifenden Störung der Kommunikation mit anderen, mit der normalen Welt. Manche psychisch Kranke verschließen sich ganz in ihre eigene Welt. Sie haben felsenfeste Überzeugungen, die
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