Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
kein anderer Mensch mit ihnen teilt. Sie
scheuen aus einem Gefühl der Unfähigkeit heraus den mitmenschlichen Kontakt. Erfolgreiche Therapie heißt dann in der Psychiatrie nicht nur, dass die psychische Störung selbst beseitigt oder wenigstens gelindert ist, sondern Therapie betrifft auch die sozialen Folgen. Der Mensch muss sich wieder befreit als kommunikatives soziales Wesen erleben dürfen. Mit allen Mitteln der Psychotherapie, der medikamentösen Therapie und vieler anderer Methoden das zu erreichen, das ist, kurz gesagt, die ganze Aufgabe der Psychiatrie.
Die entscheidende Frage war also: Hat Franz von Assisi gelitten? Hatte er Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen, hatte er Kommunikationsprobleme? Offenbar nicht. Er war von heiterem Gemüt, konnte im wahrsten Sinn des Wortes keiner Fliege etwas zuleide tun und war außerdem von einer so unglaublichen kommunikativen Kompetenz, dass er Tausende junger Menschen seiner Zeit begeisterte. Bis heute folgen Zehntausende Männer und Frauen, verteilt über alle Länder der Erde, der Armutsregel des heiligen Franz. Er ist sogar eine Gestalt, die in den Bestrebungen um die Einheit aller Christen eine besondere Rolle spielt. Denn in ihm sehen Katholiken, Protestanten und selbst Orthodoxe ein leuchtendes Vorbild christlichen Lebens. Mit anderen Worten, alle Gründe, die Psychiater veranlassen, unter psychischen Störungen leidende Menschen zu behandeln, fallen bei Franz von Assisi weg. Wenn es nur Menschen wie Franz von Assisi gegeben hätte, wäre die Psychiatrie nie erfunden worden. Franz von Assisi war also zwar ein höchst ungewöhnlicher Mensch mit ganz außergewöhnlichen Erlebnissen, aber er war berstend gesund. Dabei ist übrigens unerheblich, ob jemand die Stimme vom Kreuz für eine göttliche Stimme hält oder als »religiös Unmusikalischer« für eine Einbildung bei übersprudelnder Fantasie. Beides ist nicht krank.
Damit ist klar: Es ist gefährlich, Einsichten, zu denen die Psychiatrie bei leidenden Menschen gelangt ist, umstandslos auf nicht leidende Menschen zu übertragen. Die Unart mancher Psycho-Experten, Diagnosen auch auf Leute anzuwenden,
die bei ihnen gar nicht den Krankenschein abgegeben haben - insbesondere auf Kollegen -, ist ein Missbrauch von Diagnosen. Es muss der Grundsatz gelten, dass ein Mensch im Zweifel gesund ist. Sonst wird die Welt zur Diktatur der langweiligen Normopathen, der grauen Mäuse jeder Gesellschaft, die mit einer Ideologie korrekter Normalität alles Außerordentliche einebnen und eine willfährige Psychiatrie dazu missbrauchen, alles Irritierende in diagnostische Schubladen zu sperren. Dann würde diese ganze bunte Welt totalitär mit nicht erwünschten Behandlungen überzogen - und für die wirklich Leidenden bliebe keine Zeit mehr.
Die Affäre mit dem heiligen Franz von Assisi hatte mir einiges klargemacht. Und künftig konnte ich mit psychiatrischen Erkenntnissen gelassener umgehen. Wissenschaft ist im Sinn moderner Wissenschaftstheorie keine Wahrheitslehre. Und die Psychiatrie beruht auf einer hermeneutischen Methode, das heißt, sie liefert mehr oder weniger nützliche Bildbeschreibungen - aus denen man gewisse Schlüsse für die Therapie leidender Menschen ziehen kann. Nicht mehr und nicht weniger.
2. Fantastisch anormal - Über Genie und Wahnsinn
Eine imperialistisch werdende Psychiatrie würde nicht nur einen so fantasievollen Menschen wie Franz von Assisi grandios missverstehen. Für gewisse Menschen, die komplette Fantasieprodukte sind, wäre sie geradezu existenzgefährdend. Man nehme Don Camillo aus den unsterblichen Geschichten des Don Camillo und Peppone. Man erinnere sich, wie der hinreißende Schauspieler Fernandel als Don Camillo in der Dorfkirche zum Teil heftige Dispute mit Jesus am Kreuz führt. Jesus ist dabei mit den Eskapaden seines übereifrigen Dieners nicht immer glücklich. Nicht selten tadelt der Gottessohn den Gottesmann. »Kommentierende Halluzinationen« würde manch naiver Psycholehrling da zischen, »Symptom ersten Ranges
nach Kurt Schneider« für die Diagnose einer Schizophrenie. Man bedenke die Auswirkungen! Der Kommunist Peppone war der erbitterte Widersacher Don Camillos. Und als Bürgermeister war er natürlich auch Herr des Ordnungsamtes, das für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig ist. Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung sich selbst oder andere in Gefahr bringt - im Fachjargon heißt das: selbst- oder
Weitere Kostenlose Bücher