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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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Menschen verdienen genauso unsere ehrliche Meinung wie andere Menschen.
     
    Umgekehrt hat man bekannte Künstler als psychisch Kranke zu entlarven versucht. Das würde nach dem eben Gesagten an der Bewertung der Kunst zwar nichts ändern. Aber es ist doch zumeist eher der neidische Reflex der wahnsinnig oder blödsinnig Normalen, die am liebsten jeden für krank halten, der nicht so geistlos ist wie sie selbst. Salvador Dali mit seinen fantastischen Kompositionen, Joseph Beuys mit seinem auffälligen Outfit, Andy Warhol mit seiner Exzentrik, sie alle waren gewiss nicht normal, aber doch auch nicht gleich krank.
     
    Wie wichtig ist es überhaupt, ob ein außergewöhnlicher Mensch krank oder gesund ist? Ob jemand als krank oder als gesund gilt, das hat sehr viel mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun. Es scheint, dass wir heute weniger tolerant sind als die Menschen früherer Zeiten, dass wir also schneller dazu neigen, etwas Außergewöhnliches für krank zu erklären. Doch dazu darf sich die Psychiatrie nicht hergeben. Wer den »Herbst des Mittelalters« von Johan Huizinga liest, der taucht ein in die faszinierende Buntheit des 15. Jahrhunderts, in die Zeit der exzentrischen Herrscher und schrillen Höflinge und eines Volkes voll praller Vitalität. Burleske Hofnarren in den feinen Kreisen, Dorftrottel und sonstige merkwürdige Gestalten im einfachen Volk sorgten dafür, dass Normalität ein breites Spektrum von Charakteren und Verhaltensweisen umfasste. So war die Normalität zwar weitherziger, aber dadurch durchaus zerbrechlich. Plötzlich konnte der Herrscher oder sonst ein wichtiger Mensch durchdrehen und alle hatten darunter zu leiden.

3. Die Irren und ihre Ärzte - Wie die Psychiatrie erfunden wurde
    Gewiss gab es auch in diesen Zeiten eindeutig psychisch Kranke. Doch die wurden als solche nicht wahrgenommen. Denn die Psychiatrie war ja noch gar nicht erfunden. Und so wurden psychisch Kranke als von bösen Geistern besessen oder schlicht als kriminell betrachtet und entsprechend behandelt. Einige stellte man auf Jahrmärkten zur Schau. Noch in den Jahren 1807 bis zu seinem Tod 1843 wurde der psychisch erkrankte Hölderlin in seinem »Narrenturm« in Tübingen trotz aller Freundlichkeit der Wirtsleute im Grunde wie ein Tier gefangen gehalten.
     
    Es war nicht die Wissenschaft, sondern es waren unstudierte christliche Ordensleute, die zuerst erkannten, dass psychisch Kranke in Wirklichkeit leidende Menschen waren, und sie nahmen sich ihrer an. Schon ab dem 17. Jahrhundert sorgten die so genannten Alexianer-Brüder in Belgien, Holland und Niederdeutschland für solche Menschen, nahmen sie in ihre Häuser auf und entzogen sie so dem allgemeinen Spott und der Verfolgung. Erst viel später, Ende des 18. Jahrhunderts, entdeckte dann die Wissenschaft die psychisch Kranken. Dramatisch befreit auf einem Gemälde in der medizinischen Akademie in Paris der französische Psychiater Philippe Pinel die psychisch Kranken von ihren Ketten. Man schrieb das Jahr 1793, in Paris war Revolution und der Revolutionsrat hatte Pinel soeben zum Leiter der Anstalt Bicêtre ernannt. Dieses Ereignis gestaltete man später mit viel Fantasie zum Gründungsmythos der modernen Psychiatrie aus. Es sei dahingestellt, ob nicht schon einige Jahre zuvor ein solcher Durchbruch geschah. Jedenfalls hatte nun plötzlich die Wissenschaft die psychisch Kranken entdeckt. Im 19. Jahrhundert boomte die neue Disziplin. Wilhelm Griesinger erkannte das Gehirn als die Ursache allen Übels: Psychische Krankheiten sind Hirnkrankheiten. Man baute Heil- und Pflegeanstalten. »Heil-«, um akute Zustände zu heilen, »Pflege-«, um chronisch Kranke angemessen zu betreuen. Das war damals ein großer Fortschritt. Man verlegte
die Kliniken außerhalb der Städte auf die grüne Wiese, weil man glaubte, frische Luft und Schonung sei gut für die Kranken. Dadurch brachen freilich oft alle ohnehin fragilen sozialen Kontakte dieser Menschen ab und es entwickelten sich psychische Störungen, die durch die Behandlung erst entstanden. Hospitalismus nannte man dieses Phänomen später. Die Kranken standen starr herum, machten wiederkehrende wippende Bewegungen und zeigten andere Auffälligkeiten. Zwar hatte man die psychisch kranken Menschen vor der Verwahrlosung bewahrt, aber dadurch neue Probleme produziert.
     
    Die Wissenschaft allerdings machte tatsächlich Fortschritte. Der deutsche Psychiater Emil Kraepelin teilte vor etwa 100 Jahren die so genannten

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