Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Geisteskrankheiten in zwei Gruppen ein: das heilbare »Manisch-Depressive Irresein«, das nur phasenhaft verlief, und die unheilbare »Dementia praecox«, die chronische »vorzeitige Verblödung« in der drastischen Terminologie der damaligen Psychiatrie, die Eugen Bleuler dann später Schizophrenie nennen sollte. Bei der ganzen bunten Vielfalt der Verrücktheiten eine solche Zweiteilung zu etablieren, war ein großer Fortschritt. Denn für den Patienten und seine Angehörigen war die Prognose von entscheidender Bedeutung. Nicht aus Laborwerten oder irgendwelchen Messungen, sondern aus Bildbeschreibungen merkwürdiger psychischer Phänomene eine Diagnose zu stellen, das war Grundlage dieser neuen Disziplin. Es wird berichtet, dass ein bekannter Psychiater durch seine Klinik ging und mit klinischem Blick diagnostizierte: »wird jesund - wird nich jesund«. Später definierte der schon erwähnte Kurt Schneider so genannte Symptome ersten Ranges, deren Auftreten ein deutlicher Hinweis auf das Vorliegen einer Schizophrenie war. Die deutsche Psychiatrie unterteilte die ganze Welt der Psychiatrie schließlich in drei Gruppen: 1. Die organischen Psychosen, das waren Blutungen, Tumoren oder Entzündungen, die das Organ Gehirn betrafen. 2. Die endogenen Psychosen, die klassischen früher so genannten »Geisteskrankheiten« mit der Zweiteilung in Manisch-Depressive Erkrankung und Schizophrenie. Und schließlich 3. Die Variationen seelischen Wesens, das heißt die Psychopathien -
krankhafte Persönlichkeitsvarianten -, Neurosen, Süchte und andere krankheitswertige Phänomene, die sich im Laufe eines Lebens entwickeln konnten. Dabei bedeutete der Ausdruck »Psychose« eine psychische Erkrankung mit wirklicher (1.) oder wenigstens unterstellter (2.) organischer Ursache, während demgegenüber »Neurose« eine lebensgeschichtlich, also durch psychische Effekte ausgelöste krankheitswertige Störung bezeichnete, die nach psychoanalytischer Sicht vor allem auf ungeklärten frühkindlichen Konflikten beruhte. Die anderssprachigen Psychiatrien aber hatten andere Einteilungen gewählt, die Amerikaner zum Beispiel den DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Deswegen konnte man international Ergebnisse psychiatrischer Forschungen kaum vergleichen. Und so setzte sich vor etwa 15 Jahren auch in unseren Breitengraden die von der Weltgesundheitsorganisation erfundene Internationale Klassifikation der Krankheiten in ihrer zehnten Version (ICD-10) durch. Sie verzichtet auf eine Unterteilung nach Ursache und Prognose, konzentriert sich stattdessen auf die Erfassung äußerer Merkmale, die möglichst auf der ganzen Welt ähnlich beschrieben werden können.
4. Missverständnisse - Warum Diagnosen nie wahr sind
Nach dem oben Gesagten muss nun klar sein, dass es Diagnosen und Klassifikationen in Wirklichkeit gar nicht gibt. Es gibt natürlich keine Schizophrenie, es gibt keine Depression, es gibt keine Sucht. Es gibt nur Menschen, die unter verschiedenen Phänomenen leiden. Und Diagnosen sind Worte, die Psychiater erfunden haben, um diesen leidenden Menschen kompetent zu helfen. Diagnosen sind Hinweise auf die richtige Therapie. Man kann die Diagnosen also getrost vergessen, wenn man mit den Menschen zu tun hat, die unter psychischen Störungen leiden. Es gibt nämlich auch nicht den Schizophrenen, den Depressiven, den Süchtigen. Es sind vielmehr alles ganz unterschiedliche beeindruckende Menschen, die zeitweilig oder längerdauernd unter bestimmten außergewöhnlichen Erscheinungen
leiden. Und jeder auf eine ganz andere sehr persönliche Weise. Diagnosen können also nicht beanspruchen, Wahrheiten zu sein. Es sind mehr oder weniger nützliche Beschreibungen von Phänomenen - und so sollen sie hier auch vorgestellt werden. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass es in Deutschland eine Zeit gab, in der Diagnosen brutal missbraucht wurden. Da waren sie nicht mehr Hilfen für leidende Menschen, sondern da tat man so, als seien Diagnosen Wahrheiten, tödliche Wahrheiten. Die Identifikation von Menschen mit Diagnosen ist eine Perversion.
Nicht nur die Theorie der Psychiatrie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. In der Praxis hat man die psychisch kranken Menschen aus den psychiatrischen Anstalten draußen vor der Stadt wieder in die Gesellschaft zurückgeholt. Man hat manches Großkrankenhaus aufgelöst, und chronisch psychisch kranke Menschen können nun in normalen Wohnungen oder Wohngemeinschaften
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