Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Nagel hängen kann und stattdessen fröhlich in seinem Privatleben herumdiagnostiziert, der ist für den Beruf nicht geeignet. Er hätte auch bald keine Freunde mehr. Außerdem ist es ungehörig, bei jemandem eine Diagnose zu stellen, der bei einem nicht den Krankenschein abgegeben hat. Im Ernst also: Das mutwillige oder zynische Suchen nach Defiziten bei gesunden Menschen ist menschenunwürdig. Es ist Missbrauch, Missbrauch von Menschen und Missbrauch der Psychiatrie.
Aufgabe der Psychiatrie ist es, wirklich kranken Menschen zu helfen. Sie muss Anwalt der Patienten sein und darf sich nicht zum Agenten einer Gesellschaft machen, die sich von den Irritationen durch ihre psychisch Kranken entlasten möchte. Es muss ihr vielmehr darum gehen, psychisch kranken Menschen zu helfen, mit all ihren Außergewöhnlichkeiten mitten
in dieser Gesellschaft zu leben. Daher ist es ein Test auf die Freiheitlichkeit der Psychiatrie, ob sie sich konsequent dem gesellschaftlichen Druck verweigert, das Außergewöhnliche und Störende für krank zu erklären. Und es ist ein Test auf die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft, ob diese all ihre merkwürdigen, nicht stromlinienförmigen Mitglieder auch wirklich frei herumlaufen lässt. Das gilt auch für diejenigen, die man behandeln könnte, die sich aber nicht behandeln lassen wollen. Solange sie niemanden und auch sich selbst nicht gefährden, muss eine freiheitliche Gesellschaft das respektieren.
Zurück zur Frage, ob es bei der Beurteilung von außergewöhnlichen Menschen wirklich wichtig ist, ob sie krank oder gesund waren. Nach Jahrhunderten ist diese Frage kaum noch zu entscheiden und vor allem ist sie dann sicher müßig. Nicht nur exzentrische Gesunde, sondern auch psychisch Kranke können einer Gesellschaft inspirierende Impulse geben, sie können faszinieren und die Menschheit weiterbringen. Das allein ist in der Würdigung historischer Persönlichkeiten wichtig. Und wenn der ausschließliche Sinn der Diagnose die Therapie ist, dann sind Diagnosen bei Toten ohnehin wenig zielführend.
II Wen behandeln?
1. Die kleine Welt der Psychiatrie - Mein Gehirn und ich
Mit alldem haben wir den Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie erheblich eingeschränkt. Nur sehr wenige der außergewöhnlichen Menschen, denen wir im Leben begegnen, verdanken diese Außergewöhnlichkeit einer Krankheit.
a) Was ist das Gute am Schlechten? - Über die Chancen der Krankheit
Gewiss, man stutzt, wenn es heißt, man verdanke etwas einer Krankheit. Doch es ist eine Tatsache, dass selbst die schwere psychische Krankheit nicht nur ihre leidvollen, sondern auch ihre guten Seiten hat. Für viele Patienten, die längst wieder gesund sind, stellt sich ihre kranke Phase im Nachhinein als positiver Wendepunkt in ihrem Leben dar. Sie verklären die Krankheit nicht, dazu besteht kein Anlass, aber sie reihen sie in die abenteuerlichen Wegstrecken ihres Lebens ein, die auch zu mancher wichtigen Erkenntnis beigetragen haben. Es klingt banal, aber wer einmal überraschend eine depressive Phase erlitten hat, der kann nie mehr unvorbereitet in eine Depression stürzen. Vielleicht geht er jetzt auch dankbarer und intensiver mit allen hellen Lebensphasen um als ein immer Gesunder, dem alles in gleicher trüber Beleuchtung vor dem Auge vorbeizieht. Wer in einem schizophrenen Schub akustische Halluzinationen erlebt hat, der hat da eine kaum überbietbare Lebensintensität gespürt. Das ist auch Leid, aber es gibt Menschen, die sogar das als Bereicherung ihres Lebens verstehen und annehmen.
Genau das versuchen auch die modernen Methoden von Psychi-atrie und Psychotherapie zu tun. Das Störende der Störung, das Kranke der Krankheit, das Belastende der Belastung, das sieht der Patient zumeist selber zur Genüge, wenn er erstmals
zum Therapeuten kommt. Da ist es Aufgabe des professionellen Therapeuten, nicht bloß die Symptome zu bekämpfen, sondern auch die Beleuchtung zu ändern und die Perspektive so zu wechseln, dass eine nützlichere Sichtweise zustande kommt, die zu Lösungen führen kann. Die Kinderpsychiaterin Thea Schönfelder hat tiefsinnig formuliert: »Was mich von meinem psychotischen Mitmenschen unterscheidet, ist meine Möglichkeit, ihn ›heiler‹ zu sehen, als er es selbst vermag.« Diese nützlichere Perspektive kann dann die Fähigkeiten und Kräfte des Patienten ins Licht stellen, die er früher bewiesen, jetzt in der Krise aber ausgeblendet hat. Denn womit soll der Patient die Krise lösen?
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