Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
Vom Netzwerk:
Patienten selbst und ihrer Angehörigen. Die Depression kann als Folge einer Ehekrise, eines Berufskonflikts, einer Auseinandersetzung mit Freunden oder Nachbarn gesehen werden, der schizophrene Wahn als Folge von Mobbing, man könnte sogar unwiderlegbar behaupten, die psychischen Symptome nach einer organischen Hirnschädigung seien im Wesentlichen von Ereignissen der vergangenen Wochen geprägt. Auch das ist niemals wahr oder falsch. Auch das ist im jeweiligen Fall unter therapeutischen Gesichtspunkten bloß mehr oder weniger nützlich.
     
    Ein Beispiel: Ein Patient kommt wegen einer schweren phasenhaften Depression in Behandlung, bei der der genetische Faktor eine große Rolle spielt. Diese Form der Depression tritt oft unvermittelt aus einem glücklichen Leben heraus auf. Plötzlich wacht der bis dahin unauffällige Patient morgens tief depressiv auf, ist verzweifelt, sieht keinen Ausweg mehr und ist durch kein Gespräch zu beruhigen. Jeder Hinweis auf die in Wirklichkeit glückliche Lebenssituation prallt ab, führt bloß noch zu Selbstvorwürfen, was er doch dieser großartigen Familie
alles antue. Wer mit einem solchen Patienten spricht, hat fast den Eindruck, gegen Moleküle anzureden. Argumente erreichen ihn gar nicht. In einem solchen Fall ist die biologische Perspektive für alle Beteiligten in der Regel die angemessenste und nützlichste. Denn sie vermeidet den Irrtum, dass an dieser Depression irgendjemand »schuld« ist. Nicht der Patient, aber auch nicht die Angehörigen, die sich nicht selten furchtbare Vorwürfe machen, weil sie vielleicht einige Tage zuvor eine banale Auseinandersetzung mit dem Kranken gehabt haben. Und dann gibt es da noch eine gewisse Sorte Verwandte, die etwa 150 km entfernt wohnen, nichts Genaues, dafür aber alles besser wissen. Die nehmen eine solche Krise gern zum Anlass, über die angeblich so herzlose Ehefrau herzuziehen. Das ist eine besondere Frechheit, denn die Ehefrau ist nach dem Patienten das zweite Opfer der Erkrankung. Sie leidet mit, fühlt sich völlig hilflos und untergründig tatsächlich oft auch schuldig. Da muss dann der Therapeut mit aller zur Verfügung stehenden Autorität erklären, dass an dieser Depression niemand, wirklich niemand, schuld ist. Er muss erklären, dass das eine Stoffwechselerkrankung ist, die man gut behandeln kann, indem man den Stoffwechsel mit Medikamenten beeinflusst, und die mit großer Wahrscheinlichkeit gänzlich heilbar ist. Das heißt natürlich nicht, dass irgendwelche Ereignisse im Vorfeld der Depression nicht doch gewisse Einflüsse insbesondere auf die besondere Färbung der Depression haben könnten. Doch die wesentliche und vor allem die mit Blick auf die Therapie nützlichste Perspektive ist in diesem Fall die biologische.
     
    Da ist dann aber der andere Fall: Ein Ehepaar kommt zur Paartherapie mit dem Problem, dass der Mann die Frau immer wieder schlägt. Der Ehemann berichtet fröhlich, er habe gerade in einer Zeitschrift gelesen, dass Aggression mit dem Serotoninhaushalt zu tun habe. Ob er nicht einfach ein paar nette Pillen nehmen könne, um das Ganze zu beenden. In einem solchen Fall wird der Therapeut diese biologische Perspektive überhaupt nicht für angemessen und nützlich halten. Ich weise dann gelegentlich darauf hin, dass der rechte Arm mit Willkürmuskulatur bewegt wird und daher nur durch einen
Willensakt im Gesicht der Ehefrau landen kann und dass die Verantwortung dafür beim schlagenden Ehemann und nicht beim unschuldigen Serotonin liegt. Ich werde in einem solchen Fall psychotherapeutisch versuchen, das Schlagen zu beenden und andere Auseinandersetzungsformen einzuüben. Selbstverständlich ist die Serotoninhypothese der Aggression nicht falsch und manchmal helfen bei extremen Ausmaßen auch bestimmte Medikamente. Doch es bleibt dabei: Die biologische Sichtweise ist bei einem solchen Problem überhaupt nicht nützlich. Vielmehr ist hier die lebensgeschichtliche Perspektive hilfreich. Was sich im Laufe eines Lebens in eine schlechte Richtung entwickelt hat, kann mit viel psychotherapeutischer Arbeit wieder zum Guten gelenkt werden. Wenn der Patient motiviert ist.
     
    Manche Patienten schieben die Verantwortung mit Vorliebe nicht auf die Biologie ab, sondern auf ihre frühkindliche Entwicklung, deren hilfloses Opfer sie waren. Nun hat die Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner Nachfolger tatsächlich in nicht angemessen gelösten frühkindlichen Konflikten eine Ursache für späteres seelisches Leid

Weitere Kostenlose Bücher