Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
leben. Es gilt der Grundsatz »ambulant vor tagesklinisch (der Patient übernachtet zu Hause), tagesklinisch vor vollstationär«. So müssen Patienten nur noch selten in einer akuten Krise ins Krankenhaus und da sind die früheren Krankensäle normalen freundlichen Krankenzimmern gewichen. Es gibt auch moderne Modelle alternativer stationärer Behandlung mit mehr Beziehungskonstanz und weniger Unruhe als bei der klassischen Krankenhausbehandlung. Früher brachten viele psychisch Kranke Jahre im Krankenhaus zu. Heute liegt die durchschnittliche Liegezeit bei drei bis vier Wochen! Das gelingt vor allem dadurch, dass inzwischen jeder Patient in seiner Nähe wirksame ambulante Hilfen nutzen kann, die es ihm ermöglichen, in seinem normalen sozialen Umfeld zu bleiben. Je weiter der Weg zur psychiatrischen Hilfe, desto eher fühlt man sich selbst als ganz kleines Würstchen, das nun den großen Psycho-Guru aufsuchen muss. So etwas ist für den Patienten therapeutisch kontraproduktiv und unwürdig obendrein. Daher gibt es für jedes Dorf in Deutschland inzwischen eine zuständige Psychiatrie, die verpflichtet ist, einen psychisch Kranken aus ihrem Einzugsgebiet bei Bedarf unverzüglich aufzunehmen und dann möglichst
schnell wieder in gute ambulante Behandlung zu entlassen. Denn die wichtigste Frage in der Psychiatrie ist natürlich: Wie komme ich hier raus?... Möglichst schnell!
Die Entwicklung der modernen Psychiatrie hat den psychisch Kranken viele Hilfen eröffnet. Das ist gut so, birgt aber auch Gefahren. Denn im Zweifel ist der Mensch gesund! Die Weltgesundheitsorganisation hat aber mit ihrer alten absurden Definition von Gesundheit viel zu einer unrealistischen utopischen Sicht von Gesundheit beigetragen. »Völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden« dekretierte sie dazumal. Das ist natürlich unerreichbar. Und utopische Begriffe laden ein zur grenzenlosen Verehrung. So ist eine absurde Gesundheitsreligion entstanden, in der Menschen nur noch vorbeugend leben, um dann gesund zu sterben. Diese Gesundheitsreligion ist eine einzige Anleitung zum Unglücklichsein. Wenn nämlich Gesundheit in Wirklichkeit niemals erreicht werden kann, dann müssen alle sich irgendwie krank fühlen. »Gesund ist ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde«, hat ein renommierter Internist einmal gesagt. Und Karl Kraus unkte: »Die häufigste Krankheit ist die Diagnose.« Diesem grassierenden Gesundheitskult müssen sich gerade Psychiater entziehen, denn mit einem utopischen Idealbild psychischer Gesundheit kann man am laufenden Band Unglück produzieren. Natürlich lässt sich bei jedem Menschen irgendeine Macke finden, oder auch zwei. Manchmal reicht schon die flotte Frage: »Sie lächeln so, was verdrängen Sie?«, um jemanden zu verunsichern. Der bekannte deutsche Psychiater Klaus Dörner hat in seriösen überregionalen Tageszeitungen zu ermitteln versucht, wie viel Prozent der Deutschen psychotherapiebedürftig krank seien. Wie viel Prozent der Deutschen also hätten Angststörungen, Panikattacken, Essstörungen, Depressionen, Schizophrenien, Süchte, Demenzen und so weiter? Dabei kam durch einfaches Zusammenrechnen heraus: Mehr als 210 Prozent der Deutschen sind psychotherapiebedürftig krank - deswegen brauchen wir Zuwanderung!
So liest man manche alarmistischen Berichte aus der Psychowelt mit gemischten Gefühlen. Denn im Zweifel ist jemand nicht krank, sondern gesund. Und durch das imperialistische Ausweiten des Reiches der Psychiatrie um irgendwelche mehr oder weniger banale Befindlichkeitsstörungen nimmt man den wirklich kranken Menschen die notwendigen Therapiemöglichkeiten.
In den vergangenen Jahren sind Tests erarbeitet worden, mit denen man auch bei ganz gesund erscheinenden Menschen noch gewisse Defizite bemerken kann. Das kann wissenschaftlich für weitere Erkenntnisse interessant sein. Ich halte die Aberkennung des Begriffs Gesundheit bei solchen Menschen aber ethisch nur dann für gerechtfertigt, wenn sich daraus relevante Therapieoptionen für wirkliches Leiden ergeben. Das gilt auch für die auf verschiedenen Feldern der Psychiatrie vorangetriebene Frühdiagnostik von Erkrankungen. Auf diese grundsätzliche Überzeugung sei an dieser Stelle vor allem mit Blick auf die nachfolgenden Beschreibungen der Krankheitsbilder ausdrücklich hingewiesen.
Und auch für das Privatleben des Psychiaters gilt: Wer nicht bei Dienstschluss seine psychiatrischen Fachkenntnisse an den
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