Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
gesehen. Die psychoanalytische Behandlung versucht, diese verdrängten Konflikte wieder bewusst zu machen, durchzuarbeiten und dadurch heilende Effekte zu erzielen. Man kann gewiss ausnahmslos alle psychischen Phänomene unter der Perspektive der frühen Kindheit zu verstehen versuchen. Auch eine solche Perspektive ist aber nicht wahr und nicht falsch. Auch sie ist nur mehr oder weniger nützlich. Dennoch hat es Psychoanalytiker gegeben, die die Psychoanalyse für die einzig wahre Sichtweise der menschlichen Seele hielten. Moderne Psychoanalytiker freilich werden eine solche ideologische Sicht der Dinge zurückweisen. Sie wissen, dass die Psychoanalyse in gewissen Fällen helfen kann, dass sie aber kein Allheilmittel ist. Und sie würden es sich vor allem verbitten, dass die Psychoanalyse für die pauschale Entschuldigung von gewalttätigen Machos herhalten soll.
Zu Zeiten der Studentenbewegung hatten soziologische Deutungen Hochkonjunktur. Die Gesellschaft wurde für alles
und jedes verantwortlich gemacht, natürlich auch für alle psychischen Erkrankungen. Es gab das Heidelberger »Sozialistische Patientenkollektiv«, das die Psychiatrie als bürgerliche Beruhigungspille für die in Wirklichkeit gesellschaftlich unterdrückten psychisch Kranken ablehnte. Nach dem Motto »Macht kaputt, was euch kaputt macht« ging man zum Angriff auf die krank machende Gesellschaft über und wurde terroristisch. Aber natürlich ist auch diese Perspektive nicht falsch. Natürlich kann man ausnahmslos alle psychischen Phänomene auf soziologische Einwirkungen zurückführen. Denn nichts Menschliches ist nur individuell. So wird man den zunehmenden Stress bei der Arbeit nicht bei seiner Wurzel packen, wenn man für die Arbeitnehmer bloß einen erleichterten Zugang zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfen schafft. Wichtig wäre vielmehr, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Stress vermeiden, so dass dieser dann gar nicht erst behandelt werden muss. Doch auch hier bleibt die soziologische Perspektive nur eine mögliche Perspektive. Sie darf nie die einzige Sicht der Dinge sein und man muss in jedem Einzelfall prüfen, ob eine solche Sichtweise wesentlich und nützlich ist oder nicht.
2. Das große Reich der Freiheit - Ich und mein Gehirn
All diese Perspektiven, die biologische, die lebensgeschichtliche, die psychoanalytische, die soziologische und manche andere versuchen, psychische Phänomene so zu deuten, als gäbe es die Freiheit des Menschen nicht. Nicht der freie Mensch, sondern die Moleküle, das Lebensschicksal, die frühe Kindheit, die Gesellschaft sind »schuld«. Solche Sichtweisen sind auch ganz in Ordnung, denn genau das erwartet man zu Recht von psychologischen Einsichten: dass sie Ursachen ermitteln, die das menschliche Verhalten bestimmen und voraussagbar machen. Wenn sie jedoch behaupten würden, damit alles über den Menschen zu sagen, wären sie nicht mehr seriös. Denn ein solcher Anspruch auf Totaldeutung wäre nicht Wissenschaft, sondern Ideologie. Wissenschaft kann die Freiheit des Menschen
daher nicht ausschließen, aber sie kann sie auch nicht erfassen, denn dann wäre die Freiheit keine Freiheit mehr. Freies Verhalten kann man definitionsgemäß nicht vorherbestimmen, sonst wäre es ja nicht frei. In weiten Teilen unseres Lebens ist unser Verhalten allerdings nicht wirklich frei. Wir haben Regelmäßigkeiten, übliche Verhaltens- und Reaktionsweisen, die wir von unseren Eltern, aus der Gesellschaft oder durch bestimmte Einflüsse im Laufe des Lebens ausgebildet haben. Für diese Verhaltensweisen entscheiden wir uns nicht jedes Mal neu in voller Freiheit, sondern es sind in gewisser Weise Automatismen geworden. Das macht uns für uns selbst und für andere berechenbar. Ursache und Wirkung solchen Verhaltens ist der wissenschaftlichen Forschung zugänglich. Doch wir können diese Automatismen jederzeit außer Kraft setzen. Wir können uns absichtlich anders verhalten, als all die Einflüsse, Triebe und Gewohnheiten erwarten lassen. Und genau das nennt man Freiheit.
a) Freiheit und Krankheit - Diesseits von Gut und Böse
Diese Freiheit, die nach Überzeugung der Aufklärung der Grund der jedem Menschen zukommenden Menschenwürde ist, ist ebenfalls eine Perspektive, unter der man psychische Phänomene sehen kann. Und zwar ebenso ausnahmslos alle Phänomene. Doch auch die Freiheit ist stets eine mehr oder weniger angemessene Sicht der Dinge. Im gerade vorgestellten Beispiel wird man bei dem Mann, der
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