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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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ist niemals krank. Psychische Krankheiten dagegen sind immer Einschränkungen der Freiheit eines Menschen, gut oder böse zu handeln. Durch die Symptome der Krankheit wird ein Patient mehr oder weniger daran gehindert, zu sagen und zu tun, was er selbst existenziell eigentlich sagen und tun
will. Daher wird man einem Patienten in einer Phase schwerer psychischer Krankheit von existenziellen Entscheidungen abraten, also von Eheschließung und Ehescheidung, von Antritt oder Kündigung eines Arbeitsplatzes. Aufgabe jeder guten Therapie ist es, dass sie mit all ihren ausgeklügelten Methoden die Wahlfreiheit des Patienten für solche Entscheidungen möglichst schnell wiederherstellt.
b) Menschenwürde und Wahlfreiheit - Unsere Herren, die Kranken
    Diese Perspektive der Freiheit, diese existenzielle Sicht, ist übrigens die wichtigste von allen Perspektiven auf das Leben. In ihr trifft man sozusagen den Menschen selbst an und nicht bloß seine Krankheit. Immer ist hinter all den sich in den Vordergrund drängenden psychischen Störungen der einzelne Mensch als freies Wesen da, auch wenn man das mitunter bei sehr ausgeprägten psychischen Erkrankungen nur ahnen kann. Der Respekt vor diesem geheimnisvollen, unverwechselbaren existenziellen Kern des Menschen, auf dem seine Würde beruht, unterscheidet eine menschenfreundliche Psychiatrie von ihrer menschenverachtenden Variante, die den Patienten nur als Ansammlung von Symptomen zu sehen vermag. Daher sind in einer humanen Psychiatrie Räume der Freiheit wichtig. Man darf nicht alles bloß unter therapeutischem Gesichtspunkt sehen. Die Patienten müssen auch mal tun und lassen können, was sie wollen. Sie sollten ohnehin so weit wie möglich in die Therapieplanung einbezogen werden. Es gibt nur wenige Studien darüber, auf welche Weise Ergotherapie, Kunsttherapie und Musiktherapie helfen. Sicher ist aber, dass sie dort wohl kaum eine therapeutische Wirkung entfalten können, wo sie nur als aufgezwungene Behandlung erlebt werden. Wahlfreiheit wird damit zur konkreten Übersetzung der Menschenwürde in die therapeutische Praxis.
     
    Das Prinzip des »informed consent«, der informierten Zustimmung durch den Patienten, gilt in der gesamten Medizin, aber es ist in der Psychiatrie besonders brisant. Denn einerseits
ist die Wahlfreiheit des Patienten krankheitsbedingt manchmal zeitweilig eingeschränkt, so dass der Rechtsstaat nach strengen Regeln Hilfspersonen bestimmt, die für ihn entscheiden müssen. Andererseits muss dennoch der Respekt vor der Freiheit des Patienten im Zentrum aller Bemühungen stehen. Denn die krankhafte Unfreiheit im Dienste der Freiheit des Patienten zu überwinden, ist Ziel aller Therapie. Daher muss es letztlich immer der Patient sein, der das Ziel der Therapie bestimmt, und wir Therapeuten haben diesem Ziel in kooperativer Haltung zu dienen. Das mögen dann manchmal auch merkwürdige Ziele sein.
     
    Als junger Arzt in der Psychiatrie hatte ich da ein Schlüsselerlebnis. Eine junge chronisch schizophrene Patientin hörte Stimmen. Sie war gescheit, etwas skurril, daher auf Hilfe angewiesen, aber guter Stimmung. Ich befasste mich ausführlich mit ihrer Krankengeschichte und stellte fest, dass man offenbar aus mir unerfindlichen Gründen keinen Versuch gemacht hatte, die Psychopharmaka höher zu dosieren, damit das Stimmenhören endlich aufhörte. Ich besprach das kurz mit der Patientin. Beim nächsten ambulanten Termin traf ich auf eine außerordentlich verstimmte Patientin. Was ich denn da angestellt hätte! Es ginge ihr jetzt viel schlechter als vorher. Ob denn die Stimmen aufgehört hätten, fragte ich. Ja, die hätten aufgehört, doch gerade das sei das Problem. Sie habe immer die freundliche Stimme einer verstorbenen Lehrerin gehört. Das habe ihr gutgetan. Und diese Stimme sei jetzt weg... Ich war ratlos. Da hatte ich gelernt, wie man Stimmen wegmacht, und hatte dieses Wissen auch korrekt und vor allem mit Erfolg angewendet. Doch die Patientin war dafür noch nicht einmal dankbar, im Gegenteil, sie beschimpfte mich. Ich versuchte, mich in die Gedankenwelt der Patientin zu versetzen. Sie litt nicht unter der Stimme, die Stimme gehörte zu ihrer Welt, in der sie sich offensichtlich wohlfühlte. Und so entschloss ich mich, die Neuroleptika wieder zu reduzieren, bis die Stimme der Lehrerin wiederkam. Die Patientin war zufrieden - und ich hatte wieder mal viel gelernt. Natürlich ist das Hören von Stimmen für die meisten Menschen eine unangenehme

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