Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
seine Frau schlägt, gewiss an Freiheit und Verantwortung appellieren. Bei einer schicksalhaft einbrechenden Depression ist das in der Regel keine gute Idee.
Sucht ist Unfreiheit. Aber nicht totale Unfreiheit. Sucht betrachten wir heute als Erkrankung der Wahlfreiheit. Der Süchtige hat keine Wahl. Er muss trinken. Die Therapie versucht nun, dem Patienten wieder Wahlfreiheit zu ermöglichen. Doch um überhaupt Therapie mit Aussicht auf Erfolg machen zu können, muss man beim Patienten wenigstens einen Funken
Freiheit annehmen. Denn sonst könnte sich der Patient ja gar nicht zur Therapie entscheiden und vor allem nicht dazu, dann mit Hilfe der Therapie sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Da war eine allzu ideologisch dargebotene Suchttheorie mitunter misslich, die Sucht als lebenslang unveränderbare Störung vorstellte. Zwar half diese Sicht einigen Patienten, aber für manche andere ergab sich daraus das lähmende Gefühl einer völligen Hilflosigkeit vor dem Suchtmittel. Wenn man die Überzeugung verinnerlicht hatte, dass »Suchtdruck« eine große Gefahr, der »Rückfall« ein schreckliches Verderben und der »Kontrollverlust« eine unvermeidliche Folge davon war, dann traten diese Ereignisse mitunter im Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ein. Der Kranke erlebte sich nur in der beschämenden Rolle des hilflosen Opfers. Der Patient als handelndes Subjekt kam gar nicht vor. Ein modernes Rückfallmanagement war unter solchen Voraussetzungen schwierig zu begründen. Schon das Wort »Rückfall« hat etwas von einem Überfall von außen, und vor allem liegt in dem Ausdruck die Behauptung, was in der Vergangenheit schon mal da war, werde wieder passieren. Beides sind in der Regel wenig nützliche Suggestionen.
Wir sagen daher heute lieber, dass jemand sich entschieden hat, zu trinken, und wir sprechen unbestimmter von »Vorfall« - der ganz genauso in der Vergangenheit noch nie da war und aus dem man gegebenenfalls gute Schlüsse für die Zukunft ziehen kann. Sorgfalt im Umgang mit der Sprache ist für gute Psychotherapie wichtig, denn die Sprache ist das Skalpell des Psychotherapeuten. »Sich entscheiden« ist eine vergleichsweise neutrale Formulierung. Sie beschuldigt nicht einfach, weil damit noch nichts zum Suchtdruck, zum Kontrollverlust und anderen drängenden Faktoren gesagt ist. »Sich entscheiden« erinnert aber an die Freiheit des Patienten, die immer noch besteht, trotz der Sucht. Und genau diese Freiheit ist es ja, die dann genutzt werden soll, um die Entscheidung zu treffen, nichts zu trinken. So steht der Süchtige zwischen der drängenden Sucht
auf der einen und seiner Freiheit auf der anderen Seite. An die Chancen der Freiheit zu erinnern, ist Aufgabe jeder guten Therapie. Dabei vermag niemand von außen zu entscheiden, wie viel Sucht und wie viel Freiheit im Einzelnen vorliegt. Und vor allem: Kein Mensch kann sicher sein, ob er selbst bei vergleichbarem Suchtdruck nicht auch gegen seinen Willen getrunken hätte. Das macht den Therapeuten bescheiden.
So kommt die Freiheit vor allem bei der Therapie mit ins Spiel. Unter dem Aspekt der Freiheit kann man durchaus fragen, was der Sinn einer psychischen Störung sein könnte. Es gibt bestimmte so genannte Rentenneurosen, bei denen Menschen, die mehr Freude an der Rente als an der Arbeit haben, ganz bewusst ein Krankheitsbild simulieren, um an ihr Ziel zu gelangen. Eine Behandlung solcher Störungen ist natürlich aussichtslos. Denn die Behandlungsmotivation tendiert bei diesen Möchtegernpatienten gegen Null. Doch es geht auch weniger absichtlich. Manche »reagieren« mit einer psychischen Störung auf irgendein Lebensereignis, ohne dass man dabei genau auseinandertüfteln kann, wie viel da unterbewusst und wie viel bewusst inszeniert ist. Jedenfalls ist die Perspektive der Freiheit für jede psychische Situation immer möglich. Auch sie ist natürlich stets mehr oder weniger angemessen. Man kann das ganze Leben eines Menschen als Kunstwerk seiner selbst betrachten. Und das gilt nicht nur für große Künstler, sondern im Grunde für jeden Menschen. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt der Volksmund. Und diesmal hat er jedenfalls nicht ganz unrecht.
Was frei entschieden wird, ist jedenfalls nie krank. Es ist gut oder böse, es ist sogar unglaublich gut und bestialisch böse. Und doch, es gibt keine Psychomethode, mit der man Gutes oder Böses vermehren oder vermindern kann, denn Gutes oder Böses zu tun,
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