Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Gangstörung, keine sonstigen Auffälligkeiten, nichts. In früheren Zeiten wurde es nun schwierig. Denn mit einer normalen Röntgenuntersuchung konnte man nur die Knochen sehen, nicht aber die Weichteile, also auch nicht das Gehirn. Doch heute verfügen wir glücklicherweise über eine komplizierte Röntgentechnik, das Computertomogramm (CT), mit dem man das Gehirn darstellen kann. Noch genauer ist das so genannte Magnetresonanztomogramm (MRT), mit dessen Hilfe man das Gehirn wie im Anatomieatlas bis ins Detail sieht. Solche Untersuchungen sind heutzutage wenig belastend. (Und immerhin sind die Menschen, bei denen das Gehirn mit bildgebenden Verfahren untersucht wurde, die einzigen, bei denen einwandfrei feststeht, dass sie überhaupt ein Gehirn haben!) Ich ließ also sofort ein Bild des Gehirns anfertigen - und siehe da, es zeigte sich in der rechten Hirnhälfte ein klar abgegrenzter Tumor.
Als ich nun nachfragte, kam heraus, dass der Patient sich seit etwa einem halben Jahr merkwürdig verändert hatte. Irgendwie sei er nicht mehr der alte gewesen, gab die Ehefrau an. Er sei auch vergesslicher geworden und hatte zeitweilig sogar Orientierungsprobleme, wusste nicht recht, wo er war. Es gab deswegen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, die er aber auf Intrigen geschoben hatte. Er war in Vorruhestand gegangen. Dadurch war er mehr zu Hause und seine Frau spannte ihn in Haushaltstätigkeiten ein. Einkaufen zum Beispiel. Das hatte er früher als treusorgender Ehemann gern gemacht. Aber jetzt vergaß er immer wieder etwas. Seine Frau schob diese für ihn eigentlich ganz ungewöhnliche Schusseligkeit auf mangelnde Wertschätzung ihrer Person und ihrer Aufträge. Es gab Ehestreit. Er hatte nie viel Alkohol getrunken. Doch nun trank er beinahe jeden Abend mehrere Flaschen Bier. Er hatte keinen Job mehr, seine immer so harmonische Ehe war aus rätselhaften Gründen in der Krise und der Alkohol beruhigte ihn ein wenig. Hinzu kam, dass das Bier den angenehmen Zusatzeffekt hatte, dass es sich auf die Kopfschmerzen positiv auswirkte, unter denen er erstmals in seinem Leben seit einigen Monaten litt. Doch der Bierkonsum machte das Verhältnis zu seiner
Frau auf Dauer keineswegs besser, denn jetzt kam das Thema Alkohol als Konfliktthema hinzu. Er beachte sie kaum, weigere sich auszuführen, worum sie ihn bitte, und nun saufe er auch noch! Nach solchen Auseinandersetzungen verstärkte sich sein Drang zum Bier. Der Teufelskreis schien ausweglos. Sie drohte mit Scheidung - nach 30-jähriger weitgehend harmonischer Ehe -, er war verzweifelt. So ließ er sich zu einem Arztbesuch überreden.
Im letzten Moment, wie sich herausstellte. Denn der Tumor war zwar kein Krebs, aber jedes wachsende Gebilde im Schädel hat auf Dauer tödliche Folgen, da der Schädelraum geschlossen ist und jede Raumforderung in diesem Bereich unweigerlich das Gehirn zusammendrückt. Das führt zunächst zu Kopfschmerzen, außerdem zu unspezifischen psychischen Symptomen, Konzentrationsmangel, Orientierungsstörungen, dann irgendwann zu vermehrter Müdigkeit, Schläfrigkeit, Koma und schließlich zum Tod. Der Patient wurde umgehend in die Neurochirurgie verlegt. Der Schädel wurde geöffnet, der Tumor entfernt, der psychische Zustand besserte sich zusehends. Die Konzentrationsstörungen ließen nach, die Orientierung war wieder einwandfrei. Auf den Alkoholkonsum konnte er ohne Weiteres verzichten, zumal die quälenden Kopfschmerzen verschwunden waren. Das Skalpell des Neurochirurgen hatte in einem Aufwasch die merkwürdigen Persönlichkeitsveränderungen des Patienten, die Gedächtnisstörungen, die Ehekrise und den »Alkoholismus« geheilt. Nicht nur der Patient, auch die Ehefrau war überglücklich, und nun bewährte sich die jahrzehntelange harmonische Ehe, denn die Beziehung hatte genug Kraft, die Krise zu überstehen.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass man niemals vergessen sollte, dass der Mensch ein Gehirn hat und dass das Gehirn ein Organ ist wie andere auch. Schädigungen des Organs Gehirn können chamäleonartig alle sonstigen psychischen Störungen täuschend echt imitieren. Ein Hirntumor kann eine Schizophrenie, eine Depression, eine Manie, eine Sucht oder sonst irgendeine psychische Erkrankung nachäffen. Aber die gleichen
Symptome kann auch etwa eine Hirnblutung, eine Hirnentzündung, eine Hirnvergiftung verursachen oder sonst eine körperliche Erkrankung, die nur indirekt das Gehirn betrifft.
Freilich gibt es Alarmzeichen dafür,
Weitere Kostenlose Bücher