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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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erläuterte uns der Professor die Druckwellen, die bei einem Schlag auf den Kopf durch das Gehirn gehen und nicht nur auf der Seite des Schlages, sondern auch an der gegenüberliegenden Seite eine bleibende Verletzung hinterlassen können. In solchen Fällen dauert die Bewusstlosigkeit länger als eine Stunde mit anschließender längerer Desorientierung. Derartige Zustände sind kriminalistisch interessant, weil man sich anschließend nicht nur an die Bewusstlosigkeit, sondern auch an den Zustand der Desorientierung zumeist nicht mehr erinnern kann. Was man in diesem Zustand tut, dafür ist man natürlich nicht verantwortlich. Von außen kann der Laie einen solchen Zustand, den man wegen seines prinzipiell vorübergehenden Charakters auch »Durchgangssyndrom« nennt, nicht unbedingt erkennen. Es gibt sogar so genannte orientierte Dämmerzustände, die von außen ganz orientiert wirken. Dennoch erinnert sich der Patient an nichts. Wenn also in so einem Zustand ein Patient den immer schon gehassten Nachbarn von der Bildfläche verschwinden lässt, stellt sich die schwer entscheidbare Frage, ob man ihm glauben soll, dass er sich an überhaupt nichts erinnern kann. Es kommt vor, dass nach schweren Autounfällen desorientierte Menschen im Durchgangssyndrom durch den angrenzenden Wald irren und sich dabei schwer gefährden. Wenn übrigens ein Patient nach einer Gehirnerschütterung wieder aufgewacht ist und dann wieder schläfrig wird, ist das ein absoluter Notfall. Dann hat er wahrscheinlich bei dem Ereignis eine Hirnblutung erlitten, die jetzt das Hirn zusammenquetscht.

     
    Auch bei Vergiftungen können akute hirnorganische Störungen auftreten, bei Stoffwechselstörungen, nach Überhitzung beim »Sonnenstich« oder bei Entzündungen des Gehirns. Eine Meningitis ist zwar eine »Hirnhautentzündung«, aber meistens ist dabei auch das Gehirn selbst mitbetroffen. Dann heißt sie Meningoenzephalitis. Es gibt auch die reine Enzephalitis, die Hirnentzündung. Für solche schweren Krankheitszustände sind Bakterien oder Viren verantwortlich. Und das Gehirn reagiert in extremen Fällen wieder mit Desorientierung, Schläfrigkeit, Koma. Antibiotika, mit denen man Bakterien bekämpft, oder Virostatika, mit denen man Viren in Schach hält, sind da die lebensrettende Therapie.
     
    Vor 100 Jahren litt ein großer Teil der Patienten psychiatrischer Anstalten unter progressiver Paralyse. Das war das chronische Endstadium der Syphilis, einer bakteriellen Geschlechtskrankheit, die man damals, vor der antibiotischen Ära, noch nicht wirklich behandeln konnte. Friedrich Nietzsche, einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts, starb völlig desorientiert und seiner geistigen Brillanz beraubt an dieser schweren hirnorganischen Erkrankung.
     
    Akute hirnorganische Störungen sind nichts Seltenes. Wenn auch die Alkoholvergiftung, wie die Wissenschaft unliebenswürdigerweise den Alkoholrausch nennt, dazugehört, dann hat vielleicht jeder irgendwann einmal sein Gehirn in akuten organischen Stress gebracht. Das geht aber nicht nur mutwillig mit Alkohol, sondern auch ganz unabsichtlich ohne Alkohol. Eine Kollegin hatte wegen einer Blasenentzündung ein modernes Antibiotikum eingenommen. Sie hatte dennoch Nachtdienst gemacht und berichtete am anderen Morgen in der Ärztekonferenz, dass sie nachts einige amüsante akustische Halluzinationen gehabt habe. Sie habe Stimmen von Menschen gehört, die gar nicht da waren. Sie hatte das glücklicherweise mit Humor genommen, dann das Medikament aber doch abgesetzt, denn so spaßig war das Ganze auch wieder nicht.

     
    Eines Tages wurde ein älterer Patient eingeliefert. Er selbst war guter Stimmung, aber seine Angehörigen waren hochbesorgt. Er sah nämlich seit einigen Wochen gelbgetönte Bilder in seiner Wohnung an den Wänden. Dabei hing da gar nichts. Wir stellten eine Überdosierung eines Herzmedikaments fest. Das Medikament wurde reduziert. Die Bilder waren weg, die Angehörigen erleichtert. Doch der Patient beklagte sich, dass das Leben an Farbe verloren habe, die gelben Bilder seien doch so schön gewesen. Notgedrungen schafften die Angehörigen einige bunte Bilder an, um die kahlen Wände etwas ansprechender zu gestalten.
     
    Nicht bloß wenn es ins Hirn blutet, reagiert unser Denkorgan mit der üblichen Verärgerung. Auch wenn die Blutzufuhr zeitweilig zu gering ist, schaltet es ab. Der Patient wird bewusstlos. Das tritt nicht immer schlagartig ein, sondern mitunter über ein

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