Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
assoziiert die Öffentlichkeit mit der psychiatrischen Elektrokrampftherapie irgendetwas zwischen Sadismus und Folter.
Doch worum geht es eigentlich? Man hatte zufällig festgestellt, dass psychisch Kranke nach spontanen epileptischen Anfällen plötzlich deutlich besser dran waren. In einer Zeit, in der es kaum wirksame Hilfen gegen schwere psychische Erkrankungen gab, war das eine Sensation. Und so ging man vor etwa 70 Jahren daran, epileptische Anfälle zu Heilungszwecken künstlich auszulösen. Das war allerdings damals mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden, da sich die Patienten beim großen Krampfanfall nicht selten verletzten. Seit man
aber die Elektrokrampftherapie unter Narkose und Muskelentspannung durchführte, ist daraus eine gut wirksame, nebenwirkungsarme Behandlungsform geworden. Ein kurzer Stromimpuls an den Schläfen führt beim narkotisierten Patienten nur zu einem leichten Zittern der Augenlider. Die vorübergehenden Gedächtnisstörungen, über die Patienten früher klagten, sind inzwischen durch technische Veränderungen auf ein Minimum reduziert. Vor allem aber ist die Wirkung bisweilen frappant. Wer einmal erlebt hat, wie ein schwer depressiver Patient mit monatelangem Schuldwahn und immer wieder auftretenden starken Impulsen, sich etwas anzutun, nach einigen dieser Behandlungen seine Depression verliert, gar nicht mehr versteht, wie er überhaupt auf all die absurden Ideen gekommen ist und nur heilfroh ist, sein Leben wieder glücklich leben zu können, der wird seine anfängliche Skepsis schnell los. Gewiss, Elektrokrampftherapie hilft nicht bei jedem, ist auch nur sehr selten angezeigt. Doch bloß aus mangelndem Wissen eine wissenschaftlich inzwischen bestens abgesicherte Methode nicht einzusetzen, wäre aus ethischen Gründen bedenklich. Die Segnungen und Grenzen der Elektrokrampftherapie korrekt unter die Leute zu bringen, wäre eine wissenschaftsjournalistische Herausforderung ersten Ranges. Es muss ja nicht gleich der smarte Psychiater mit dem verständnisvollen Blick in der neuen Arztserie sein...
Und dann sind da noch andere technische Verfahren, mit denen man neuerdings versucht, starre »Rhythmen des Leids« zu durchbrechen. Da sind die transkranielle Magnetstimulation, bei der Magnetfelder im Gehirn elektrische Ströme auslösen, die Vagusnervstimulation, bei der der Vagusnerv am Hals stimuliert wird, und andere Methoden. Man erprobt sie vor allem bei schweren Depressionen, die auf andere Behandlungen nicht ansprechen.
Aber auch ein schlichter Schlafentzug kann bei schweren Depressionen die Stimmung aufhellen, was übrigens selbst bei nicht depressiven Menschen funktioniert. Eigentlich sollte man ja meinen, eine schlaflose Nacht führte zu einem misslaunigen
Morgen. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Ich selbst habe das im Studium erlebt, als ich noch eine Hausarbeit fertigstellen musste - nachts vor dem entsprechenden Seminar, versteht sich. Ich hatte also die ganze Nacht kein Auge zugetan und war bestens präpariert. Allerdings war ich merkwürdig aufgedreht. Als der Professor dann in den einleitenden Bemerkungen einen Fehler machte, hörte ich mich ohne Umschweife laut und in fröhlicher Stimmung sagen: »Falsch!«. Das Seminar erstarrte vor Schreck. Ich merkte sofort meinen Fauxpas und murmelte etwas Relativierendes. Der Professor hatte glücklicherweise die Freundlichkeit, meine Bemerkung zu übergehen. Der Schlafentzug war mir nicht gut bekommen.
Viele meiner Leser werden sich an ähnliche Erlebnisse erinnern. Und genau diese Effekte nutzt man bei Depressiven. Man weckt sie dann gewöhnlich nachts gegen halb zwei Uhr und hält sie wach. Manchmal bringt der folgende Tag den ersten Lichtblick seit Wochen und das beglückende Erlebnis, dass es - im Wortsinn - Licht am Ende des Tunnels gibt. Auch Licht selbst setzt man als Therapeutikum ein. Denn man stellte fest, dass bei den saisonabhängigen Depressionen in der dunklen Jahreszeit die Stimmung heruntergeht. Wenn Patienten sich dann eine gewisse Zeit vor helles Licht setzen, kann das zur Besserung der Depression beitragen. Noch manch andere Maßnahmen könnte man erwähnen. Es ist kein Wunder, dass Psychiater sich unermüdlich neue Gedanken gemacht haben, wie man das schwere Leid psychisch Kranker lindern kann. Wer sich immer wieder dem verzweifelten Blick der Depressiven aussetzt, der will helfen, schneller, wirksamer, besser. Und dieser mitfühlende Blick ins Gesicht verzweifelter Menschen hat die
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