Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
psychiatrische Wissenschaft immer angetrieben.
Doch nicht nur die Psychiater kümmern sich um psychisch Kranke. Es sind auch die psychologischen Psychotherapeuten, die Krankenschwestern und Krankenpfleger, die oft für das Wohlergehen der Patienten viel wichtiger sind als die behandelnden Ärzte. Zweifellos sind auch Musiktherapie, Kunsttherapie, Ergotherapie, die man früher Beschäftigungstherapie
nannte, Sport- und Bewegungstherapie, ja auch Krankengymnastik für die Gesundung des ganzen Menschen von großer Bedeutung. Der Patient kann sich so mit allen seinen Sinnen wieder als aktiv erleben und nicht nur als passiv unter seiner Erkrankung leidender Mensch. Dabei ist die Arbeitstherapie für psychisch Kranke besonders wichtig. Denn etwas herzustellen, für das andere Geld ausgeben, das ist ein wichtiges Erfolgserlebnis für jemanden, der vielleicht monate- oder jahrelang erleben musste, dass er nichts mehr zustande bringen konnte. Vor der medikamentösen Ära in der Psychiatrie war die Arbeitstherapie die erste nachhaltig wirksame Behandlungsmethode. Das wurde inzwischen höchst professionell weiterentwickelt. Und so hat moderne Psychiatrie mit Hilfe arbeitstherapeutischer Methoden viel Fantasie entwickelt, psychisch Kranken erfolgreiche Wege zu einer Berufstätigkeit zu ebnen. Arbeit vermittelt nicht bloß Erfolgserlebnisse, sondern auch wichtige soziale Kontakte, das weiß jeder. Und so wird die Gesundheitsdefinition Friedrich Nietzsches wieder aktuell, der gegen alle utopischen Gesundheitsträumereien mit nüchternem Realismus definierte: »Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.« An einem solchen Ziel zu arbeiten, das macht Sinn.
C Eine heitere Seelenkunde - Alle Diagnosen, alle Therapien
Die Instrumente liegen bereit. Jetzt können wir das große Unternehmen der Darstellung aller Diagnosen und Therapien angehen. Wir wissen, was Diagnosen sind. Vor allem auch, was sie nicht sind. Sie sind keine Wahrheiten, sondern Codeworte, die den Zweck haben, eine angemessene Therapie auszulösen. Wir wissen, dass wir alle psychischen Störungen unter ganz verschiedenen Aspekten sehen können. Und dass keine dieser Perspektiven wahr ist. Wir haben einiges über Sinn und Unsinn von Therapien erfahren. Dabei haben wir einen Überblick über die gängigen Therapieverfahren bekommen. Jetzt müssen wir diese grundsätzlichen Erkenntnisse zu Diagnosen und Therapien nur noch auf die große bunte Welt der psychischen Störungen anwenden.
I Wenn es das Gehirn erwischt - Kleine Schläge auf den Hinterkopf erhöhen nicht das Denkvermögen
1. Wie man ein Chamäleon ertappt - Detektivarbeit
Vor mir saß ein Ehepaar. Seit Jahren verheiratet. Doch nun hing ganz offensichtlich der Haussegen schief. Sehr schief. Der Mann saß da wie ein Häufchen Elend. Die Frau hatte sich fast mit dem Rücken zu ihrem Göttergatten gesetzt. Sie wirkte genervt, dabei kämpferisch und selbstbewusst. Sie hatte den Termin gemacht - »für ihn«, wie sie betonte. Ich blickte beide erwartungsvoll an. Doch niemand sprach. Schließlich brummte sie: »Sag doch was! Wir sind doch wegen dir hier.« Und da begann er stockend: »Wissen Sie, Herr Doktor, meine Frau meint, ich sei Alkoholiker und müsse etwas unternehmen... Sicher, ich trinke manchmal...« »Regelmäßig!«, zischte es aus ihrer Ecke. »... zu viel.« »Viel zu viel!«, ergänzte sie böse. Ich kannte solche Konstellationen zur Genüge. Der Alkoholiker, der sich lange etwas vorgemacht hat, die Ehefrau, die den armen Tropf lange Zeit geschützt hat, aber der dann irgendwann der Geduldsfaden reißt. In Gedanken hatte ich schon ein Bett auf der Alkoholentgiftungsstation im Auge, die Empfehlung einer Selbsthilfegruppe, vielleicht sogar eine Langzeittherapie, man würde sehen. Ein Routinefall, so schien es.
Ich bat die Frau, kurz draußen zu warten, ich müsse ihren Mann noch körperlich untersuchen. Eine körperliche Befunderhebung gehört zu jeder psychiatrischen Untersuchung. Und da geschah es. Beim Überprüfen der Muskelreflexe stellte ich gesteigerte Reflexe auf der gesamten linken Körperseite fest. Mit allem hatte ich gerechnet, doch nicht mit so etwas. Auch bei mehrfacher Kontrolle blieb der Befund eindeutig: linksseitige Reflexsteigerung als Hinweis auf irgendeinen körperlichen Prozess in der rechten Hirnhälfte. Nichts hatte im Bericht des Patienten und seiner Frau auf so etwas hingedeutet.
Keine
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