Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
schließlich kann sich sogar die Orientierung zur eigenen Person verlieren. Der Patient weiß nicht mehr, wer er ist. So werden im Lauf einer in der Regel fortschreitenden Entwicklung die Intelligenzleistungen immer mehr eingeschränkt, was den Kern der Erkrankung ausmacht. Der Patient kommt ohne Hilfe am Ende mit seinem Leben nicht mehr klar.
Die Alzheimer-Demenz ist ein weitgehend kontinuierlicher Prozess. Geht die demenzielle Entwicklung dagegen mehr schubweise in kleinen Sprüngen voran, dann handelt es sich meist um eine gefäßbedingte Demenz. Ursache dafür sind Schädigungen der Gehirngefäße, die zu kleinen »Schlägelchen« führen, kleinen Schlaganfällen also, bei denen bestimmte
Bereiche des Gehirns plötzlich von der Blutzufuhr abgeschnitten werden. Wenn Hirnzellen aber mehr als etwa drei Minuten ohne Blutzufuhr bleiben, gehen sie unwiederbringlich unter. Geschieht das an vielen Stellen des Gehirns, entwickelt sich die so genannte vaskuläre Demenz. Im Computertomogramm kann man sie an den vielen kleinen »Löchern« im Gehirn erkennen. Eine solche sprungartige Entwicklung bemerkt der Patient selbst meistens eher als einen kontinuierlichen Prozess. Diese Selbstwahrnehmung ist durchaus leidvoll. Es ist wie bei allen Demenzen dabei besonders wichtig, den Patienten liebevoll zu begleiten. Man sollte sich darum bemühen, dass er möglichst lange in seiner altbekannten Umgebung bleiben kann. Man sollte für gute Orientierungsmöglichkeiten und einfache Merkhilfen sorgen. Vor allem aber muss den Angehörigen geholfen werden, die nicht selten unter der Demenz stärker leiden als der Patient selbst.
Natürlich tritt die Demenz noch bei vielen anderen chronischen Gehirnerkrankungen auf, mitunter bei Parkinson, der »Schüttellähmung«, fast immer bei der schon erwähnten Chorea Huntington, auch bei mehr lokalen Gehirnabbauerkrankungen wie dem Morbus Pick, der das Vorderhirn betrifft und zu manchmal ziemlich heftigen emotionalen Ausbrüchen führt. Mit circa 60 Prozent aller Demenzen bei Weitem am häufigsten ist aber die Alzheimer-Demenz. Die vaskuläre Demenz liegt etwa bei 20 Prozent. Eine eigentliche Heilung gibt es nicht. Man hat inzwischen einige Medikamente gefunden, die in den ersten Stadien von Demenzen den Verlauf verlangsamen können. Außerdem kann man bei Erkrankungen im Alter durch eine Stabilisierung der körperlichen Situation, Herz und Kreislauf, Nierenfunktion und so weiter, auch die psychische Situation erheblich verbessern. Allein die Sicherstellung des Nachtschlafs kann Wunder wirken.
Solche deutlichen Erleichterungen für die Lebensqualität erinnern daran, dass sich bei der Demenzerkrankung ganz andere Fragen stellen als bei einer im engen Sinn heilbaren Erkrankung, Fragen, die ans Grundsätzliche reichen. Der Mensch
ist in der Regel am Anfang seines Lebens und am Ende seines Lebens hilfsbedürftig. Das ist eigentlich nichts Schlimmes, sondern eine liebenswürdige Eigenart menschlicher Existenz. Diese Tatsache allein schon als Krankheit zu bezeichnen, wäre absurd. Am Beginn des Lebens käme niemand auf diese Idee. Doch auch ganz am Ende des Lebens stellt sich die Frage, ob das irreversible Nachlassen von Fähigkeiten eigentlich mit dem Ausdruck Krankheit richtig gefasst ist.
Bei manchen Menschen lassen am Ende des Lebens die körperlichen Fähigkeiten nach, obwohl sie geistig noch topfit sind. Solche Menschen leiden nicht selten darunter, dass gewisse Alteneinrichtungen alte Menschen wie kleine Kinder behandeln. Ich kannte eine höchst gebildete Soziologin, die im hohen Alter an Parkinson litt, geistig völlig auf der Höhe, aber körperlich pflegebedürftig war. Sie empfand es als respektlos, dass sie im Pflegeheim mit Märchenvorlesen zwangsbeglückt wurde. Aber sie ertrug die Kindereien des Personals mit Würde.
Die Demenzerkrankung zeigt das umgekehrte Phänomen. Hier sind die körperlichen Fähigkeiten oft noch erstaunlich gut erhalten, nur die geistige Leistungsfähigkeit ist eingeschränkt. Die geistigen Fähigkeiten, auf die die Normalen auf der Höhe ihres Lebens so stolz sind, lassen am Ende eines jeden Lebens wieder nach: schnell rechnen können, schnell logisch schließen können, sich schnell an veränderte Umstände anpassen können. Das alles sind freilich Fertigkeiten, in denen uns ein Computer ohnehin überlegen ist. Die eigentlich menschlichen Fähigkeiten, Liebe, Vertrauen, Milde, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Freundlichkeit, Solidarität,
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