Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Freude, lustvolles Leben im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments, bleiben auch beim Demenzkranken lange erhalten. Mancher strotzend normale Jungmanager ist zeitlich und örtlich präzise orientiert, kennt die Börsenkurse von heute auswendig, hat aber vielleicht vergessen, dass er zu Hause eine Frau hat, die ihn liebt, und Kinder, die ihn brauchen. Der späte Alzheimerpatient hat alles vergessen, er weiß nicht mehr, wo er ist, welches Datum wir haben, er weiß nichts mehr - das Letzte, was er noch weiß,
ist, dass er eine Frau hat, die ihn liebt, und Kinder, die ihn mögen. Hilfe annehmen können ist übrigens eine ebenso kostbare menschliche Eigenschaft wie anderen Hilfe geben. Doch nicht jeder Normale kann so etwas.
4. Demenzkranke und Normale - Eine Annäherung
Und so verweist ein Alzheimerpatient all die Normalen auf das eigentlich Wichtige ihres Lebens. Während die Normalen mit dichtgedrängtem Terminkalender durch ihr unwiederholbares Leben hetzen und die Gegenwart vergessen, weil sie in dem Wahn leben, das Leben bestehe nur aus einer abgearbeiteten Vergangenheit und einer noch zu bearbeitenden Zukunft, so erinnern demenzkranke Patienten, die die Vergangenheit vergessen haben und die nicht in die Zukunft planen, uns alle daran, dass das Leben ausschließlich in der Gegenwart stattfindet. Es gibt demenzkranke Menschen, die sich mit ihrer Demenz arrangiert haben und zufrieden ihr Leben leben. Natürlich geht das nicht ohne die Hilfe von Angehörigen und professionellen Diensten. Selbst dann gibt es immer wieder für den Demenzkranken mühsame Situationen. Doch auch Normale haben ja mitunter Probleme. Der Schrecken der Demenz liegt für die Normalen zu einem guten Teil an der fixen Idee, ein gutes menschliches Leben bedeute, immer alles selbst im Griff haben zu müssen. Ein solches Lebensziel ist nicht weise, es ist auch in nichtdementen Zeiten utopisch. Immer steht man in irgendwelchen unvermeidlichen Abhängigkeiten. Gespräche mit demenzkranken Menschen sind mitunter müßig, das heißt, es kommt nichts dabei heraus. Aber muss aus allem im Leben etwas herauskommen? Die Muße war für die alten Griechen der Höhepunkt des Lebens, es war eine Zeit, die man zwecklos, aber gerade dadurch höchst sinnvoll verbrachte. Sinnvolle Gespräche, die nicht irgendwelche kurzfristigen Zwecke verfolgen, dazu sind gestresste Normale, für die Zeit Geld ist, kaum noch in der Lage. Dabei ist gegenwärtig gelebte Lebenszeit eigentlich unbezahlbar, weil sie unwiederholbar und damit unwiederbringlich
ist. An diese kostbare Einsicht können die Demenzkranken die Normalen erinnern.
Wenn sie nicht durch irgendwelche Unübersichtlichkeiten irritiert sind, können Demenzkranke viel angenehmere Menschen sein als die Normalen. Sie wollen einen nie übers Ohr hauen, sie lügen nie, denn wenn sie die Unwahrheit sagen, sagen sie sie nie mit böser Absicht. Sie sind nicht nachtragend. Man fühlt sich nicht gedrängt, sich irgendwie zu produzieren, denn für sie gilt allein die menschliche Gegenwart. Das soll nicht heißen, dass Demenz ein Glücksfall ist, kein Angehöriger, der schwer an der Last der Erkrankung trägt, könnte das so sehen. Aber sie ist eben auch nicht bloß das Ende, sondern bisweilen sogar in Momenten ein Aufleuchten echter Humanität.
Vor allem am Anfang ist die demenzielle Entwicklung für alle Beteiligten leidvoll. Wenn das Gedächtnis nachlässt, vor allem typischerweise das Neugedächtnis, dann kommt es zu peinlichen Situationen. Man verlegt Gegenstände - und beschuldigt andere, sie gestohlen zu haben. Man verliert den Überblick über die alltäglichen Dinge und erlebt das zunächst als schmerzlichen Verlust an Selbstständigkeit. Oft reagieren Patienten gerade in dieser Anfangsphase mit einer Depression. Und auch die Angehörigen müssen sich mit viel Mühe an diese völlig neue Situation gewöhnen.
Viele Patienten entwickeln aber bald außerordentliche Fähigkeiten, die unangenehme Lage geschickt zu überspielen. Ich erinnere mich noch gut daran, als uns ein Assistent während des Medizinstudiums in der psychiatrischen Universitätsklinik einen etwa 50-jährigen Patienten befragen ließ. Wir waren sechs wissbegierige Studenten und explorierten den Mann nach allen Regeln der ärztlichen Kunst. Der Patient war freundlich zugewandt, berichtete bereitwillig, dass er beruflich als Ingenieur tätig sei, er gab an, wo er studiert hatte, erzählte von seinen Hobbys und kam schließlich auf
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