Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
seine Ehe zu sprechen, bei der es gewisse Probleme gebe. An dieser Stelle hakten wir nach, denn wir waren hier schließlich in der Psychiatrie und dachten,
Psychiatrie habe es vor allem mit Problemen zu tun. Es kam heraus, dass seine Frau offensichtlich recht dominant war, und er fühlte sich nicht richtig ernst genommen. Am Schluss der fast einstündigen Befragung bedankte sich der Patient höflich für das ausführliche Gespräch und wir begaben uns wieder zu unserem Assistenten, der sich interessiert danach erkundigte, was wir herausgefunden hatten.
Wir waren uns unserer Sache sicher. Es handelte sich um eine klassische Eheproblematik. Jeder von uns steuerte eifrig seine Beobachtungen bei, doch je mehr wir uns unter Hinzuziehung aller möglichen Fachbegriffe in Begeisterung redeten, desto merkwürdiger reagierte der Assistent. Er stimmte nicht zu, er widersprach nicht, doch auf seinem Gesicht zeigte sich ein rätselhaftes Lächeln. Zum Schluss unseres aufgeregten Berichts fragte er nüchtern, ob wir sonst noch etwas bemerkt hätten. Wir verneinten. Daraufhin bat er den Patienten herein. Er begrüßte ihn freundlich, man tauschte einige Floskeln aus und dann fragte er wie beiläufig, wo man hier sei. »In einem Hotel«, antwortete der Patient mit aller Selbstverständlichkeit. Wir waren wie vom Donner gerührt. Jeder konnte sofort sehen, dass wir in einem Krankenhaus waren. Der Assistent fragte freundlich weiter. Der Patient kannte weder den regierenden Bundeskanzler, er wusste nicht das Datum, weder das Jahr, noch den Monat, noch den Tag. Uns hielt er für Journalisten. Der Assistent beendete das Gespräch höflich. Der Patient verabschiedete sich und wir saßen wie die begossenen Pudel vor unserem leicht amüsierten Ausbilder. Der Patient hatte es durch allgemeine Floskeln und kleine Geschichtchen vermocht, uns eine Stunde lang darüber im Unklaren zu lassen, dass er eine Alzheimer-Demenz hatte. Das Altgedächtnis funktionierte noch. Auf die Frage, wie alt er sei, hatte er geantwortet: Ich bin von 1927. Uns war nicht aufgefallen, dass er die Frage gar nicht beantwortet hatte. Das hätte er auch nicht gekonnt, denn er wusste gar nicht, welches Jahr wir hatten. So hatte er den bei Demenzkranken häufigen Trick gewählt, bloß das Geburtsjahr zu nennen, denn das war im Altgedächtnis noch problemlos abrufbar. Auf solche Weise können Demenzkranke den unbefangenen Besucher
lange täuschen. Das macht bisweilen Probleme, wenn gewisse missgünstige, entfernt wohnende Verwandte bei der Familie zu Besuch kommen, die aufopfernd den demenzkranken Großvater pflegt. Die wissen dann zu berichten, es stimme ja gar nicht, dass der Großvater geistig nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte sei. Das sei bloß üble Nachrede, man wolle wohl an sein Geld. Der Großvater habe vielmehr noch ein »brillantes Gedächtnis«, denn er habe noch aus Kriegszeiten und auch sonst von früher alle möglichen Details gewusst. Das stimmt, denn es ist für Demenzen typisch, dass das Altgedächtnis manchmal sogar besser zu funktionieren scheint als bei Normalen. Doch schon am nächsten Tag hat der Großvater möglicherweise den Besuch vom Vortag völlig vergessen. Das für das Alltägliche wichtige Neugedächtnis ist das Problem.
Es ist von großer Bedeutung, besonders respektvoll mit Menschen umzugehen, die unter solchen für sie peinlichen Gedächtnis- und Orientierungsstörungen leiden. Als uns Studenten ein schwer demenzkranker Patient vorgeführt wurde, der bloß noch ein Sekundengedächtnis hatte, der also sofort vergessen hatte, was er soeben gesagt hatte, da wurde deutlich, dass die entsprechenden Fragen dem Patienten sichtlich hochnotpeinlich waren. Als der Patient dann draußen war, diskutierten wir Studenten die Frage, ob es ethisch zu rechtfertigen sei, einen Menschen in eine so unangenehme Situation zu bringen. Der Dozent antwortete beruhigend, der Patient habe ja auch die Peinlichkeit sofort wieder vergessen. Doch das leuchtete mir nicht ein. Denn ob ein Mensch sich noch an eine unangenehme Situation, in die man ihn gegen seinen Willen gebracht hatte, erinnern konnte, das war für die ethische Beurteilung aus meiner Sicht unerheblich. Dieser Mensch hat jedenfalls einen unwiederholbaren Augenblick seines Lebens unfreiwillig eine für ihn offensichtlich höchst unangenehme Situation erlebt.
Ich bemühe mich deshalb, besonders feinfühlig mit demenzkranken Menschen umzugehen. Das beginnt schon mit der Erhebung der
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