Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
einer Vereinsfeier und ich bin die paar hundert Meter nach Hause gefahren...« Der Patient unterbrach sich. Sein verblüffter Gesichtsausdruck verriet anstrengende Geistestätigkeit. Er packte mich am Arm, legte seine Stirn in bedeutsame Falten, als hätte er gerade eine unglaubliche
Entdeckung gemacht, und stieß dann treuherzig hervor: »Herr Doktor, das ist aber jetzt wirklich merkwürdig. Schon wieder Alkohol. Da muss ich wohl ein Problem haben...« Ich stimmte ihm freimütig zu und schlug vor, die Sache morgen noch einmal genauer zu bereden, wenn er nüchtern und ich ausgeschlafen sei. Jetzt war der Patient widerstandslos einverstanden zu bleiben und ging, nachdenklich über sich selbst den Kopf schüttelnd, immer noch leicht schwankend, zu Bett.
Die Diagnose der Alkoholabhängigkeit besitzt die Merkwürdigkeit, dass sie im Grunde nur der Patient selbst stellen kann. Es gibt zwar Laborwerte, mit denen man den Alkoholkonsum in der vergangenen Zeit messen kann, aber ob dieser Alkoholkonsum mit der psychischen Krankheit Alkoholabhängigkeit zusammenhängt, die die Freiheit des Menschen so einschränkt, dass er unter dem fast unüberwindbaren Drang steht, zu trinken, das weiß wirklich nur der Patient.
Es gibt den Spruch: Der Alkoholiker geht dem Arzt aus dem Weg und der Arzt geht dem Alkoholiker aus dem Weg. Alkoholiker lassen sich nicht gern mit ihrem Problem konfrontieren und Ärzte sind es seit Jahrhunderten gewohnt, dass der Patient gefälligst tut, was der Herr Doktor sagt. Doch genau das funktioniert bei Alkoholikern nicht und deswegen sind Alkoholiker unbeliebte Patienten. Der Alkoholiker verspricht sich selbst und dem Arzt nicht selten das Blaue vom Himmel, löst solche Versprechen aber dann allzu oft in Alkohol auf. Das ist für alle Beteiligten frustrierend.
Und daher haben manche hervorragende Hausärzte nur begrenzte Ahnung vom Alkoholismus. Da gibt es dann frohe Botschaften nach dem Motto: Sie sind kein Alkoholiker, Ihre Leberwerte sind einwandfrei! Dabei sagen die Leberwerte allein gar nichts aus. Es gibt Menschen, die keine Alkoholiker sind und doch schon bei geringen Dosen Alkohol mit Leberwerterhöhung reagieren. Und es gibt Alkoholiker, die horrende Mengen Bier pro Tag konsumieren, aber dennoch jungfräuliche Leberwerte haben. Manchmal ist die Situation, in der Alkohol
konsumiert wird, viel gefährlicher als die schiere Menge. Bei Menschen in südlichen Ländern, die Wein ritualisiert zum Essen trinken, entgleitet der Konsum viel seltener im Sinn eines exzessiven Alkoholismus. Das Problem ist die Privatisierung des Konsums: Ich und mein Kühlschrank. Dass es in einer individualisierten Gesellschaft keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr gibt, also der Zusammenbruch der Esskultur, ist eine wichtige Ursache für die Zunahme von Trunk- und Esssucht.
Die Menge des Alkoholkonsums allein ist also kein sicheres Kriterium. Gewiss, bei einem Glas Bier pro Tag wird man nicht zum Alkoholiker. Doch über Mengen zu diskutieren, bringt ohnehin nichts, denn man wird im Zweifel die wahren Mengen nicht erfahren und die sind auch nicht wirklich relevant. Im Rheinland ist es manchmal gar nicht so einfach, herauszubekommen, ob ein Patient überhaupt Alkohol trinkt. Fragt man den durchschnittlichen Rheinländer, ob er Alkohol trinkt, streitet der bisweilen vehement ab. Fragt man dann geistesgegenwärtig, wie viel »Kölsch« er trinkt, dann kann man zu hören bekommen: »Ach so, das meinen Sie, Herr Doktor. Na ja, sagen wir mal einen Kasten pro Tag...« Auch manche gepflegte ältere Dame streitet auf die Frage nach Alkoholkonsum theatralisch alles ab: »Wo denken Sie hin, Herr Doktor, keinen Tropfen!« Fragt man dann möglichst harmlos nach, wie viel »Klosterfrau-Melissengeist« es denn so pro Tag werden könnte, kommen enorme Mengen zutage: ein, zwei Fläschchen täglich! Man muss wissen: Klosterfrau-Melissengeist ist einer der stärksten Schnäpse Deutschlands, fast reiner Alkohol, 79 Prozent! »Aber er tut doch so gut... in den Tee, in den Kaffee... Er hilft eigentlich gegen alles...« In der Tat, die entzückende ältere Dame ist voll wie eine Haubitze, geht aber nach jahrelangem Training noch vergleichsweise senkrecht über den Flur. Jetzt hat sie allerdings leider einen unangenehmen Entzug vor sich.
Bei der Diagnose Alkoholabhängigkeit kommt es also nicht so sehr auf Alkoholmengen, Leberwerte oder andere messbare Daten an. Alkoholabhängigkeit zeigt sich vielmehr daran, dass der Patient die
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