Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Unbefangenheit dem Suchtmittel gegenüber
verloren hat und durch den drangvollen weiteren Konsum sein Leben ruiniert. So sind zwar Suchtdruck, der Verlust der Kontrolle über das Suchtmittel und Entzugssymptome Kennzeichen der Alkoholabhängigkeit. Auch die Toleranzentwicklung gehört dazu: Der Alkoholiker verträgt zeitweilig mehr Alkohol als andere, weil die angeschlagene Leber den Alkohol schneller verarbeitet. Doch all das will der Süchtige vor sich selbst und anderen lange Zeit nicht wahrhaben. Und so sind die Fragen nach den berühmten »Drei F« - Firma, Frau, Führerschein - weiterführend. Kein Zweifel, der Beruf ist existenziell von entscheidender Bedeutung. Wer also so weit geht, eine Abmahnung zu riskieren, weil er trinkt, der hat zum Alkoholkonsum eine ungesunde Beziehung. Die Partnerschaft ist wesentliche Voraussetzung fürs Lebensglück. Wer sie leichtfertig durch unverdrossenes Alkoholtrinken aufs Spiel setzt, beweist, dass der Alkohol ihm wichtiger geworden ist als seine Frau. Und auch die Bedeutung des Führerscheins ist nicht zu unterschätzen. Der Führerschein ist für viele Menschen die Voraussetzung ihrer Bewegungsfreiheit. Diese Freiheit dennoch durch Alkoholkonsum zu gefährden, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es mit der Freiheit dem Alkohol gegenüber nicht mehr weit her ist. Um die Abhängigkeit zu erklären, sage ich manchmal: »Wenn ich Ihnen empfehlen würde: Essen Sie ab sofort kein Joghurt mehr, sonst bekommen Sie massive Probleme, dann hätten Sie doch wohl keine Probleme damit, sich daran zu halten. Doch für den Alkohol sind Sie sogar bereit, Beruf, Partnerschaft und Führerschein aufzugeben. Offenbar haben Sie zum Alkohol ein durchaus anderes Verhältnis als zu Joghurt.« Auf solche oder ähnliche Weise können Patienten, die sich nicht »Alkoholiker« nennen wollen, zugeben, dass sie »ein Problem mit dem Alkohol« haben. Diese zutreffende Eigendiagnose reicht völlig, um eine anständige Therapie zu beginnen.
2. Das Männchen mit dem Glaskopf - Was die Psychiatrie mit der Mafia verbindet
Die Therapie fängt mit dem Entzug an. Was ist das eigentlich?
Entgiftung heißt die erste Phase des Entzugs. Sie dauert meistens nur wenige Tage. Und da behandelt man die körperlichen Entzugssymptome des Patienten. Die leichteren Formen sind Schwitzen, Unruhe, Zittern, Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit. Wenn die Symptome stark ausgeprägt sind, gibt man Entzugsmedikamente, die vor allem den zwei gefährlichsten Entzugsereignissen vorbeugen, dem epileptischen Entzugsanfall und dem Delirium tremens, »Weiße-Mäuse-Sehen«, wie der Volksmund sagt. Wer was am ehesten bekommt, das ist von Patient zu Patient verschieden und nicht eigentlich vorhersehbar; es sei denn, der Patient hat schon einmal einen Entzug gemacht. Als Entzugsmedikamente geben manche ein Benzodiazepin, das beruhigt und vor allem vor Anfällen schützt, andere geben »Distraneurin«, was vor allem das Delirium tremens behandelt. Beide Medikamente haben selbst ein Abhängigkeitspotenzial, so dass man sie nur streng kontrolliert und streng vorübergehend geben darf. Wer im Entzug einen Anfall bekommt, ist noch kein Epileptiker, und außerhalb des Entzugs ist er zumeist vor Anfällen sicher.
Das viel gravierendere Problem ist das Delir. Das Delir ist ein höchst merkwürdiges Phänomen, das als organisch psychische Störung ganz viele Ursachen haben kann, das wir aber am häufigsten beim Alkoholentzug sehen. Es ist eine ernste Sache, denn unbehandelt kann es tödlich verlaufen. Doch sein Ablauf kann unfreiwillig witzig sein. Im Delir ist der Patient in einem veränderten Bewusstseinszustand, an den er sich im Nachhinein zumeist nicht erinnert. Er ist völlig desorientiert und zugleich höchst suggestibel. Das heißt, man kann ihm alles Mögliche einreden. Ich erinnere mich noch gut an die Vorlesung, als ein deliranter Patient im Bett hereingefahren wurde. Der Professor hielt ihm ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier
vor und wies ihn an, den - nicht vorhandenen - Text vorzulesen. Nach einem gewissen Zögern las der Patient höchst bereitwillig einen fantasierten, wirren Text vom Blatt. Delirante Patienten haben oft optische Halluzinationen, sehen kleine bewegliche Phänomene, die sie als »Tierchen«, »weiße Mäuse« oder Ähnliches wahrnehmen. Das ist für die Patienten durchaus beunruhigend. Außerdem verkennen sie oft grotesk die Situation. Bei der Visite fragte der Chefarzt den deliranten Patienten, wo er
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