Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
sich denn hier befinde. Nach einem unsicheren Blick durch den Flur der geschlossenen psychiatrischen Station meinte der Patient mit fragendem Blick: »In der Bäckerei?« Der Chefarzt insistierte, indem er an seinen eigenen weißen Arztkittel griff: »Aber wer bin ich denn?« Jetzt war der Patient erleichtert und rief mit dem Brustton der Überzeugung: »Der Bäcker natürlich!« Der Chefarzt hatte keine weiteren Fragen, die Studenten schmunzelten. Ein anderer Patient wähnte sich in der Bahn und kam immer wieder ins Stationszimmer, um die Fahrkarte zu lösen. Wieder ein anderer, früher zur See gefahren, meinte, sich auf einem Hochseedampfer zu befinden, und hielt sich auf dem Stationsgang dramatisch an den Handläufen fest, da »schwerer Seegang« sei. Die Patienten sind dabei eher zutraulich, verunsichert und kaum je aggressiv.
Unvergesslich ist mir ein Fall aus meiner Zeit im so genannten Praktischen Jahr, dem letzten Jahr des Medizinstudiums. Ich war in einer neuen kleinen psychiatrischen Abteilung an einem Allgemeinkrankenhaus tätig. Wir behandelten einen etwas skurrilen, aber sehr liebenswürdigen Patienten aus den Tiefen der Eifel, der unter einem auffälligen Phänomen litt. Er sah immer wieder ein kleines Männchen »mit enem Glaskopp und janz vielen Rädchen dadrin. Und Herr Doktor, wenn isch et krisch - isch schlag et kapott...« Morgens bei der Visite kamen wir in sein Zimmer. Großes Chaos, Matratzen hochgestellt, Kissen und Decken auf dem Boden. Er war mal wieder auf der Jagd nach dem Männchen gewesen. »Na, wo ist es denn jetzt?«, fragte der Chefarzt. Dramatisch zeigte der Patient auf das hohe Fenster: »Da oben, Herr Doktor, da klemp et im Fenster...« Der Patient wurde mit Neuroleptika behandelt, um die Halluzinationen
und den Wahn wegzubekommen. Und ich hatte die Aufgabe, in täglichen Gesprächen herauszufinden, ob der Patient sich von seinem Wahnerleben distanziere.
Nach einigen Tagen trat bereits eine gewisse Beruhigung ein. Die Empörung des Patienten ließ nach, und auf meine skeptischen Fragen, ob er nicht langsam etwas unsicher würde, denn solche Männchen gäbe es doch in Wirklichkeit gar nicht, begann der Patient tatsächlich, auch selber Zweifel an der ganzen Sache anzudeuten. Ich war stolz wie Oskar. Die Behandlung zeigte deutliche Fortschritte, der Patient wirkte freier. Eines Tages nun hatten wir einen Alkoholiker ins andere Bett auf dem Zimmer dieses Patienten aufgenommen. Auf der Abteilung galt das Durchmischungsprinzip. Wie im normalen Leben wurden die Patienten nicht nach Diagnosen auf verschiedene spezialisierte Stationen aufgeteilt. Niemand hatte sich also bei der Aufnahme dieses Alkoholikers etwas gedacht. Als ich am nächsten Morgen meinen schon so erfolgreich anbehandelten Patienten mit dem »Männchen« ins Arztzimmer zu unserem routinemäßigen Morgengespräch bat, fiel mir eine merkwürdige Veränderung auf. Er wirkte plötzlich wieder irgendwie kämpferisch und hatte erneut jenes überlegene Lächeln um die Lippen, das Wahnkranke bisweilen uns schlichten Wirklichkeitsideologen gegenüber an den Tag legen. Kaum hatten wir uns gesetzt, brach es aus ihm heraus: »Herr Doktor, jetz is et klar: Der andere hat et auch jesehen!« Ich war völlig überrascht. »Was hat der andere gesehen?« - »Na, dat Männchen!«, rief der Patient triumphierend aus. Mit allem hatte ich gerechnet, doch nicht damit. Ich sprang auf und lief mit dem Patienten in sein Zimmer. Da lag nun der andere Patient noch im Bett. Er sah verändert aus. Gestern hatte er nur gezittert. Das war auch jetzt zu sehen. Doch es war schlimmer geworden und er nestelte nun unkoordiniert an seinem Plumeau herum. Die Augen wirkten etwas glasig, er schwitzte stark und schaute unsicher im Zimmer herum. »Was haben Sie gesehen?«, fragte ich. Da begann der Patient mit den Händen einen runden Kopf zu umschreiben und sagte: »Ich habe so ein kleines Männchen gesehen, mit so einem Glaskopf und ganz vielen Rädchen
darin...« Die Beschreibung war völlig identisch. Das war einer der kurzen Momente, wo man als in der Psychiatrie Tätiger kurz überlegt, wer hier nun eigentlich verrückt ist. Doch als ich mich gefangen hatte, wurde mir klar, was passiert war. Der Alkoholiker war über Nacht ins Delir gerutscht, hatte sich, suggestibel, wie er nun einmal war, die plastischen Beschreibungen seines Zimmernachbarn angehört und das alles für bare Münze genommen. Es war dann gar nicht so einfach, meinem Patienten zu
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