Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
erklären, dass auch zwei gleichlautende Aussagen in der Psychiatrie und bei der Mafia nicht immer die Wahrheit beweisen.
Es kann aber auch andere Komplikationen geben. Einmal wurde ein über 70-jähriger Patient mit der Diagnose »Morbus Parkinson« eingeliefert. Der Hausarzt hatte die Diagnose gestellt. Wir waren damals auch für neurologische Erkrankungen zuständig und der Patient war tatsächlich schwer beeinträchtigt. Er zitterte am ganzen Körper, saß im Rollstuhl und war völlig hilflos. Nur eines fiel sofort auf. Das Zittern war irgendwie merkwürdig. Er zitterte nicht in dem vergleichsweise langsamen Rhythmus, der für die Parkinsonsche Erkrankung typisch ist, er zitterte vielmehr wie Espenlaub. Auch die Entwicklung der Erkrankung war ungewöhnlich. Mehr oder weniger plötzlich hatte das Zittern etwa vor drei Monaten begonnen, und die Antiparkinsonmedikamente, die der Hausarzt verschrieben hatte, hatten es eher schlimmer gemacht. Wir fragten genau nach. Die weitaus meisten Diagnosen ergeben sich durch eine sorgfältige Erhebung der Krankengeschichte des Patienten. Und dabei kam etwas Unerwartetes heraus. Der Patient nahm nämlich seit Jahren in immer höheren Dosen Benzodiazepine ein. Der Hausarzt wusste nichts davon, denn der Patient hatte die »Schlafmittel« von seiner Frau bekommen. Die aber war nun vor drei Monaten verstorben. Er war mit den Medikamenten immer mehr durcheinandergekommen. Mal nahm er über längere Zeit gar keine ein und bekam deswegen einen Entzug von den Benzodiazepinen. Der beginnt nicht sofort wie beim Alkohol, sondern zumeist erst einige Tage nach dem Absetzen. Er war unruhig geworden, ängstlich, hatte schlechter geschlafen
und vor allem begonnen zu zittern. Dann hatte er wieder Benzodiazepine eingenommen und die Symptome hatten nachgelassen. Da schließlich aber kein Nachschub mehr kam, hatte das Zittern zugenommen und ihn endlich in den Rollstuhl gebracht. Antiparkinsonmittel, die der Hausarzt eingesetzt hatte, verstärkten das Entzugszittern aber noch, und so war ein Teufelskreis eingetreten, der nun zur Aufnahme führte. Wenn Menschen über Jahre Benzodiazepine nehmen, dann setzt man diese Medikamente im höheren Alter nicht mehr ab, weil der Entzug doch sehr belastend ist. In diesem Fall aber war die Situation für den Patienten durch die relativen Entzüge noch belastender geworden, so dass wir einen vollständigen Entzug durchführten. Der Patient geriet sogar in ein Delir, versuchte nachts, eine Baugrube unter seinem Bett auszuheben, doch damit war der Entzug vorbei. Der Patient stand auf. Er konnte ohne Hilfen wieder gehen. Der Rollstuhl wurde verkauft und ein gepflegter älterer Herr in vergleichsweise gutem Zustand verließ voller Dankbarkeit die stationäre Behandlung.
Die Benzodiazepinabhängigkeit wirft übrigens einen Schatten auf die Ärzteschaft: Sehr häufig sind es Ärzte, die durch eine leichtsinnige Verschreibungspraxis eine Mitschuld an dieser Abhängigkeit haben. Freilich tragen auch Patienten dazu bei, wenn sie ultimativ von ihrem Arzt verlangen, dass der ihren Schlaf sicherstellen muss. »Der Nachbar hat von seinem Arzt da etwas Großartiges verschrieben bekommen...« Unmittelbar und sofort Schlaf herzustellen oder Angst wegzumachen, das ist ein Anspruch, der in die Abhängigkeit führt. Auch die Sucht nach Schmerzmitteln kann auf diese Weise entstehen. Sie hat zusätzlich den unangenehmen Effekt, dass irgendwann die Schmerzmittel selbst den Schmerz bewirken, ein Teufelskreis, der einen Entzug dringend nötig macht.
Medikamentenabhängige Patienten profitieren von ähnlichen Hilfen wie alkoholabhängige. Es gibt Suchtberatungsstellen für Alkohol- und Medikamentenabhängige, die informieren, motivieren und alles Weitere organisieren. Nach der zumeist stationären Entgiftung können die Patienten Selbsthilfegruppen
besuchen, die sich als höchst erfolgreich erwiesen haben. Man kann aber auch eine ambulante, tagesklinische oder stationäre Langzeittherapie anschließen.
3. Therapie - Was tun, statt süchtig sein?
Wie kann man Alkoholabhängigkeit therapieren? Wenn wir heute Sucht als Erkrankung der Wahlfreiheit verstehen, dann ist eine kooperative Beziehung zwischen Therapeut und Patient wichtig. Als junger Assistenzarzt war man früher bei Alkoholikern in einer misslichen Situation. Entweder es handelte sich um einen zu missionierenden oder um einen bereits missionierten Patienten. Der zu missionierende Patient versuchte einem etwas
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