Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
Vom Netzwerk:
Frau, die ganz für ihre Schüler gelebt hatte. Sie litt bereits seit Jahrzehnten unter einer Zwangsstörung. Immer wieder musste sie beim Verlassen des Hauses kontrollieren, ob die Tür auch abgeschlossen sei. Auf der Straße musste sie immer wieder zurückgehen, weil ihr der Gedanke gekommen war, dass da jemand verletzt im Straßengraben liege. Immer wieder verrichtete sie in ihrer Wohnung zeitaufwändige Zwangsrituale, die große Teile der Tageszeit verschlangen. Sie sah ein, dass das alles Unsinn war. Die Frau besaß nicht viel, warum sollte jemand bei ihr einbrechen? Es war ganz unwahrscheinlich, dass sie jemanden im Straßengraben übersehen hätte, und durch die Zwangsrituale wurde ihre Wohnung keineswegs ordentlicher,
sondern das leidige Chaos nahm zu. Bei einem Wahn ist der Patient von der Wahrheit seiner abwegigen Erlebnisse und Überzeugungen felsenfest überzeugt. Bei einem Zwang weiß der Patient um das Unsinnige seiner Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken. Doch wenn er dem Zwang nicht nachgeht, entsteht eine unerträgliche Angst. Es gibt ausgeprägte Zwangserkrankungen, da ist das gesamte Leben vom Zwang bestimmt. Die Patienten entwickeln ein stundenlang dauerndes Waschritual, sie säubern die Wohnung so »gründlich«, dass alles zerstört wird. Arbeiten können sie natürlich dann nicht mehr, die ganze Familie wird in die Rituale einbezogen. Es spielen sich da in irgendwelchen Etagenwohnungen wahrhaftige Tragödien ab.
     
    Die Zwangserkrankung ist schwer zu behandeln. Medikamentöse Therapie und Verhaltenstherapie gelten aber als Erfolg versprechend. Jene alte Lehrerin hatte in ihrem Leben schon viel Psychotherapie gemacht, ohne nachhaltigen Erfolg. Erst eine medikamentöse Behandlung mit einer bestimmten Gruppe der Antidepressiva wirkte so gut, dass sie damit nun besser leben konnte. Der Zwang war nicht völlig weg, aber die Lebensqualität deutlich verbessert.

2. Essen, Trinken, Sexualität - Wenn Bedürfnisse entgleiten
    Angst bis zu einem gewissen Grade ist gesund, Ordnungsliebe bis knapp vor dem Zwang ist in Ordnung. Und auch Essen, Trinken und Sexualität tun dem Leben gut. Doch wie bei allem kann es auch dabei zu viel oder zu wenig geben, oder genauer krankhaft zu viel und krankhaft zu wenig. Die dramatischste Krankheit in diesem Bereich ist die Magersucht, die Anorexie.
     
    Es ist eine der tödlichsten psychischen Erkrankungen überhaupt. Zwanzig Prozent der Patientinnen sterben. Die Erkrankung beginnt meistens bei intelligenten jungen Mädchen, die in der Pubertät Probleme mit ihrer entstehenden Weiblichkeit
haben. Sie essen immer weniger, erbrechen heimlich, nehmen Abführmittel und versuchen, durch übertriebenen Sport noch zusätzlich abzunehmen. Sie entwickeln ein merkwürdiges Selbstbild, finden sich viel zu dick, obwohl sie ganz verhungert aussehen. In den Familien entwickelt sich oft eine für alle Beteiligten höchst anstrengende Dynamik. Verzweifelte Eltern, die eine letztlich unkontrollierbare und mit allen Wassern gewaschene Patientin vor dem geradezu sichtbar bevorstehenden Tod retten wollen, und eine Patientin, die auf einem Grat zwischen Leben und Tod balanciert. Die Behandlung ist meist langwierig, aber bei Erfolg ist ein Suizid auf Raten gestoppt und ein junger Mensch dem Leben zurückgegeben. Es gibt auch das Gegenteil, die Esssucht, die Hyperphagie. Auch da ist die Therapie in erster Linie Psychotherapie. Natürlich ist nicht jedes Übergewicht eine Krankheit und auch nicht jedes Untergewicht. Die Bulimie schließlich, eine Störung mit Heißhungerattacken, provoziertem Erbrechen und mit übermäßiger Aufmerksamkeit auf das Körpergewicht, ist ebenfalls vor allem psychotherapeutisch zugänglich.
     
    Der Körper ist es, der bei den so genannten somatoformen Störungen im Zentrum des krankhaft übertriebenen Interesses steht, obwohl nachweislich keine krankhaften körperlichen Störungen vorliegen. Bei der hypochondrischen Störung kann es so weit kommen, dass ein Patient ständig befürchtet, schwer krank zu sein und daran mit Sicherheit sterben zu müssen. Das ganze Leben ist davon geprägt. Dabei werden solche Menschen nicht selten uralt, weil sie sich dauernd kontrollieren. Es gibt auch Somatisierungsstörungen, die sich auf bestimmte Organe konzentrieren. Bei der Herzangst besteht die andauernde Angst, dass das Herz im nächsten Moment stehen bleiben könnte. Es gibt aber bei der somatoformen Störung auch die Angst um die Atmung, die Verdauung oder anderes.

Weitere Kostenlose Bücher