Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus
schmählich zu Tode! Doch nun fleh ich dich an, o Odysseus, begrabe meinen Leib gleich nach eurer Rückkunft, denn solange die Erde mein armes Gebein nicht deckt, muss ich hier ruhlos die Lüfte durchtaumeln!‹ Ich versprach es, da erblickte ich Teiresias, den vielwissenden blinden Seher mit dem goldenen Stab in der Rechten, und auch der blinde Teiresias spürte meine Nähe und schwebte zu mir. Da steckte ich das Schwert in die Scheide, Teiresias trank, und nach ihm tranken, noch immer stöhnend und heulend, die armen Seelen.
Teiresias aber sprach: ›Große Gefahren harren noch dein, o Odysseus; es zürnt dir Poseidon, der Wogenerschüttrer, da du seinen Sohn Polyphem mit der glimmenden Stange geblendet hast! Hüte dich darum, dir noch andere Götter zum Feind zu machen! Du wirst auf der Heimfahrt zur Insel Thrinakia kommen; sie ist samt ihren herrlichen Herden dem Sonnengott Helios heilig, drum meide sie zu betreten und eile vorüber, Ithaka zu. Denn in bitterer Not und Bedrängnis lebt dein Weib Penelope, schamlose Freier umwerben sie voll frechen Übermuts und verwüsten zechend und schwelgend dein Hab und Gut, und es schweift dein tapferer Sohn Telemach in der Fremde, den Vater zu suchen, dass er heimkehre und die Schmach ende mit rächender Hand! ‹ Ich knirschte mit den Zähnen, da ich solches hörte, doch Teiresias sagte: ›Harre aus, o Odysseus, und opfre den Göttern, so wirst du zu guter Letzt doch die Frechen bestrafen, und in friedlichem Glück geht dereinst auch dein Leben zu Ende!‹
Dann war er verstummt; die gierigen Schatten hatten vom schwarzen Blut getrunken und waren entwichen, und um die Grube versammelten sich die Seelen berühmter Frauen aus uralten Geschlechtern: Tyro, Alkmene, Jokaste, Chloris, Leda und viele andere, einst Geliebte der Götter und Mütter unsterblicher Helden, doch körperlose wallende Dünste auch sie. Sie nahten schweigend und tranken; eine jede berichtete mir mit tonloser Stimme ihr Schicksal, dann glitten sie in die gurgelnde Tiefe zurück. AlsLetzte aber stiegen meine vor Troja gefallenen Kameraden herauf, Ajax, Achilles und die anderen herrlichen Helden, und an ihrer Spitze gewahrte ich König Agamemnon, der doch zu gleicher Zeit mit mir von Trojas Küste abgesegelt war. ›Was ist dir widerfahren, mächtiger König‹, redete ich Agamemnons Seele an, ›hat dich Poseidon, der Meererschüttrer, zu sich gezogen, oder bist du an Land Räubern in die Hände gefallen, oder hat eine kriegerische Schar deine Stadt überrannt?‹
›Ach, mein Odysseus‹, seufzte Agamemnon, und seine Augen blickten trübe vor Schmerz, ›viele Männer hast du schon sterben sehn, mein Odysseus‹, so sprach er, ›nie aber fiel ein Mann so grausam wie ich: Aigisthos, der Buhler meines Weibs, der tückischen Klytaimnestra, hat mich am Tisch hinterrücks mit dem Dolch getroffen, so dass mein Blut sich mit Wein und Speisen vermischte und mein Leib zwischen Krügen und Schüsseln auf dem Tafelholz lag. Wie ein Stier an der Krippe ward ich erschlagen; der Götter Fluch lastet schwer auf meinem Geschlecht!‹
Jammer fasste mich an, da ich solche Kunde vernehmen musste; der Schatten des Königs bat mich noch, nach seinem Sohn Orestes zu forschen und ihm von der ruchlosen Tat seiner Mutter zu berichten, dann wandte er sich um und verschwand in der Finsternis. Nun sprach ich Achilles an, der auch im To tenreich Erster unter den Seelen war; ich pries ihn drum glücklich, aber Achilles seufzte tief und erwiderte: ›O mein Odysseus, lieber wär ich ein Taglöhner, ja eines Taglöhners Knecht droben auf der Erde als hier im nachtschwarzen Reich der Fürst aller modernden Geister!‹
Schließlich entschwanden auch die Kameraden, die Grube war geleert, der Auftrag Kirkes erfüllt, nun aber wandelte mich das tolle Gelüst an, lebendigen Leibs ins Totenreich einzudringen, und so ging ich mit den Flüssen ins Innre der Erde. Eine Asphodelenwiese tat sich auf, und Dunkelheit umfing mich, der Hades hatte mich aufgenommen. In der Ferne sah ich Minos, den Richter, auf einem goldenen Stuhl thronen und die Seelen der Abgeschiedenen nach ihrem irdischen Tun mit Strafe oder Lohn bedenken. Ich konnte auch einige der Verdammten er blicken, so etwa den bejammernswerten Tantalos, der ewig hungernd und ewig dürstend in einemTeich klarsten Quellwassers unter früchteschweren Bäumen, Granaten, Oliven, Birnen, Feigen und Äpfeln, stehen muss, und den Speise wie Trank jedes Mal fliehen, sobald der Gequälte nach
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