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Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus

Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus

Titel: Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Fuehmann
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Bedingung wollten wir schier verzweifeln; kein Sterblicher war ja bislang nach dem fernen Land der Entschlafnen gekommen, doch Kirke verhieß uns einen günstigen Wind und gab uns genauen Rat, wo der Eingang zur Unterwelt aufzufinden sei. Zudem schenkte sie uns zwei untadelige Schafe von ebenmäßiger Schwärze, ein männliches und ein weibliches Tier, die wir den Göttern des Schattenreiches opfern und mit deren Blut wir die Seelen der Hingeschiednen anlocken sollten, denn die Schatten im Hades dämmern im trägen Vergessen dahin, und nur durch frisches Blut können sie die Erinnerung an ihr vergangenes irdisches Leben zurückgewinnen.
    So brachen wir denn auf und begaben uns zum Schiff, da sahen wir plötzlich auf Kirkes flachem Dach Elpenor, den jüngsten unserer Schar, einen tapfren, aber nicht gerade unmäßig klugen Helden, aufspringen und, statt zur Treppe zu gehen, quer über das Dach zu uns eilen und über den Dachrand hinaus den Fuß in die Luft setzen und den zweiten Fuß dann nachziehen und also herabstürzen und sich kläglich den Nacken zerschmettern.
    Wir wollten den Gefährten bestatten, wie es Brauch ist, aber Kirke trieb uns zur Eile an. So ließen wir denn unsern Jüngsten vor dem Palast im Staube liegen und machten uns fertig zur schwierigen Fahrt.
Am Eingang zum Totenreich
    Wir brachten die Schafe aufs Schiff, dann stießen wir ab und durchglitten mit vollem Segel das Meer, bis die Sonne sank. An diesem einen Tag erreichten wir, dank Kirkes Hilfe, das Ende des Ozeans und legten vor dem Land und der Stadt der Kimmerer an. Dieses Reich im äußersten Westen, noch hinter dem Ort, wo täglich die Sonne versinkt, ist ständig in Nacht und Nebel gehüllt; tappend und mit den Händen tastend, gehen dort die Männer durch die Straßen, und niemals, selbst nicht am hohen Mittag, ist es ihnen vergönnt, die Sonne zu schauen. Wirzündeten also Fackeln an, zogen das Schiff auf den Strand, nahmen die Schafe und gingen am Ufer hin, bis wir den Ort gefunden, den Kirke uns beschrieben hatte: den Eingang ins Totenreich. In einem wüsten Hain voll unfruchtbarer Weiden und hochragender Erlen und Pappeln vermischten sich wirbelnd zwei schwarze Ströme und stürzten durch einen Felsschlund in ein drittes Gewässer im Innern der Erde. Auf diesen Strömen fahren die Seelen der Abgeschiedenen zu Hades, dem Fürsten des Nichts und der Finsternis, der mit seinem Weib Proserpina die Unterwelt regiert.
    An dieser düsteren Stätte angelangt, handelten wir weiter nach Kirkes Rat. Ich zog das geschliffene Schwert von der Hüfte und hob damit eine Grube aus, eine Armspanne lang und eine Armspanne breit. Dann gossen wir Honig, Milch und Wein als Totenopfer über die ausgeworfene Erde und bestreuten sie mit Wasser und weißem Mehl, und schließlich zerschnitt ich den Schafen die Gurgel und ließ ihr Blut in die Grube fließen. Da begann es unter dem Erdreich zu brausen und zu brodeln, Blasen wirbelten im Gewässer, und aus den Strömen stiegen, vom süßen Blutgeruch angelockt, die Scharen der Seelen herauf. Jünglinge kamen und Jungfrauen, kummerbeladene Greise und erblühte, in jungem Gram verlorene Bräute, und hinter ihnen drängten, in blutbesudelter Rüstung, Krieger heran, Schlachtgefällte, vom Schwert Erschlagne, von Lanzen Durchstoßne, von Pfeilen Erlegte, und sie alle, junge wie alte, flatterten gierig stöhnend zur Grube und schnaubten und schrien mit heiserer Stimme nach dem nährenden Gut. Ich wurde bleich vor Entsetzen, mir graute, und ich wäre am liebsten weggestürzt, allein ich zwang mich zu Ruhe und Besonnenheit und befahl den Gefährten, den Schafen die Haut abzuziehn und das Fleisch als Hadesopfer in die Flammen zu werfen; mein blankes Schwert aber ließ ich über der Grube kreisen, um die blutheischenden Schatten so lange abzuwehren, bis des Teiresias Seele genaht war.
    Als Erster der Schatten flatterte unser Gefährte Elpenor heran, dessen Körper wir ja noch unbestattet vor Kirkes Schwelle zurückgelassen hatten. ›O Elpenor, teurer junger Freund‹, rief ich mit zitternder Stimme, da ich ihn nahen sah, ›wie konnte es nur geschehen, dass du dich am hellen Tage zu Tode stürztest?‹
    ›Der Wein war mein Verderben, er soll verflucht sein!‹, erwiderte Elpenors Schatten schluchzend. ›Bezecht war ich auf Kirkes flachem Dach eingeschlafen, und als ich, noch immer trunken, vom Lärm eures Aufbruchs erwachte, vergaß ich ganz, wo ich war, und eilte wie auf ebenem Markte zu euch und stürzte mich

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