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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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sich männlicher vor. Zwar nicht wie richtige Soldaten, aber doch schon beinahe so. In einer Hinsicht waren sie jetzt vollwertig. Am Kino stand: «Nicht für Jugendliche unter 18 Jahren». Sie waren zwar erst siebzehn, aber in der Uniform des Arbeitsdienstes durften sie anstandslos passieren.
    Als Schüler hatten sie manchmal versucht, sich einzuschmuggeln, waren jedoch immer ertappt und hinausgeworfen worden. Dabei hatten sie das sichere Gefühl, große Erlebnisse zu versäumen. Das war nun Gott sei Dank vorbei! In Erwartung prickelnder Sensationen saßen sie an einem Sonnabendnachmittag in der ersten Reihe. Heinz hatte «einen halben Hektar splitternackter Mädchen» versprochen. Um so größer war die Enttäuschung. Es war überhaupt nur eine Szene bemerkenswert, in der zwei Mädchen sich auszuziehen begannen. Sie hüpften einige Sekunden lang in Unterwäsche umher. Unzufrieden marschierten die Freunde ins Lager zurück.
    «Arbeitsmänner sind keine Herren», hatte der Obertruppführer gleich am ersten Tage verkündet. «Auf den Briefumschlägen hat und nicht zu stehen.»
    Gehorsam hatten sie es nach Hause berichtet.
    Die Post wurde mittags nach dem Essen verteilt. Wer eine Zuschrift mit «Herrn» bekam, mußte zwanzig Liegestütze machen. Manchmal pumpten zehn Mann gleichzeitig.
    Heinz hatte natürlich nach Hause geschrieben, wie die Briefe zu adressieren seien. Vielleicht nahmen seine Eltern diese Mitteilung nicht wichtig, oder sie hatten es einfach vergessen. Heinz pumpte noch Liegestütze, als er schon vier Wochen im Lager war.
    Gerhard schickte die Nachricht als Brieftelegramm. Dadurch wurde sie von seinem überaus korrekten Vater sofort beachtet. Das Telegramm hatte fünfzig Pfennig gekostet. Heinz konnte sich ausrechnen, daß er mit jedem Liegestütz einen Zehntelpfennig eingespart hatte.
    Der Dienst bestand in den ersten Tagen hauptsächlich aus dem Exerzieren. Der Spaten diente als eine Art von Gewehr-Ersatz. Es wurden Griffe damit gekloppt, und man konnte ihn sogar präsentieren. Sonst war er zu nichts brauchbar, denn zur Arbeit wurden kleinere, handlichere Spaten ausgegeben, die nicht so schön glänzten. Ordnungs- und Marschübungen waren ihnen dagegen schon vertraut; das kannten sie vom Jungvolk, von der Hitlerjugend und von Übungen, die sie auf Kasernenhöfen und Exerzierplätzen gesehen hatten. Beim Arbeitsdienst war alles einen Schein dunkler als bei der Wehrmacht. Das Gewehr war nur ein Spaten, die Ausbildung weniger intensiv, die Sachkenntnis der Vorgesetzten weniger gründlich.
    Hingegen wurde auf die politische Ausbildung großer Wert gelegt. Der Arbeitsdienst war in der Lage, auch den Absolventen der höheren Schulen neuen Stoff zu bieten. Die Gründe dafür blieben nicht geheim: Die NSDAP mißtraute den meisten Lehrern schon deswegen, weil sie vor 1933 ein anderes Geschichtsbild gelehrt hatten. Die RAD-Führer jedoch waren in der Ideenwelt des Nationalsozialismus groß geworden. Sie glaubten bedingungslos alles, was sie in der Schulung hörten. Kritische Äußerungen oder Fragen waren unerwünscht. «Leute, ihr müßt unserem Führer glauben! Wer Fragen stellt, ist kein guter Deutscher und kein zuverlässiger Nationalsozialist.»
    Der Arbeitsdienst war jedoch nicht allein zum Exerzieren da, sondern, wie der Name sagt, zum Arbeiten. Einige Kilometer vom Lager entfernt war eine Fabrik im Bau. Hier sollte am Fließband in großen Mengen Flakmunition aller Kaliber hergestellt werden. Das neue Werk lag in einem hügeligen Kiefernwald. Besonders wichtige Teile der Produktion waren in Stollen untergebracht, die tief unter der Erde lagen. Offiziell hieß der Betrieb «Lufthauptmunitionsanstalt», wurde aber der Einfachheit halber «die Muna» genannt.
    In den Kiefernwald hatte man schmale Betonstraßen geschnitten, die aus der Luft kaum zu sehen waren. Die alten Bäume standen zum Teil hart am Straßenrand, und ihre breiten Kronen bildeten ein fast geschlossenes Dach. Die Arbeitsmänner mußten Sand anfahren, Maschinen abladen oder beim Aufstellen von Baracken helfen. Einige Behelfswohnungen waren bereits fertig, ebenso eine große Küche mit einem Speisesaal. Überall sah man fast nur Frauen an der Arbeit. Ein paar alte Männer dienten als Bewachung; sie trugen eine dunkelblaue Uniform und gehörten zur Wach-und Schließgesellschaft.
     
    Der höchste Vorgesetzte im Lager war ein Oberstfeldmeister. Dem Range nach entsprach das einem Hauptmann

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