Irrfahrt
dieselben Feldwebel nicht so freundlich, schon gar nicht gegenüber Zivilisten.
Mittags faßten alle einen Schlag aus der Gulaschkanone. Auf dem Schulhof entbrannte am nächsten Tag eine heftige Diskussion über die Qualität des ausgegebenen Essens. Dabei behielt die Luftwaffe eindeutig die Oberhand.
Die drei Mitglieder des Flottenvereins aber konnten gar nichts aufweisen und schwiegen beschämt. Sie wünschten sich an einen Ort, wo zumindest ein schwerer Kreuzer zu besichtigen war; der hätte alle Schulflugzeuge und Panzerwagen weit in den Schatten gestellt.
Heinz Apelt ging auf einen Lehrgang der Hitlerjugend. Falls er dort gut abschnitt, konnte er zum Gefolgschaftsführer aufsteigen. Einige wollten sogar wissen, er käme auf eine Napola.
Gerhard und Helmut erlebten eine schwere Zeit. Bisher waren sie immer zu dritt gewesen, nun fehlte plötzlich einer.
Braungebrannt und abgehärtet kehrte Heinz nach sechs Wochen zurück. Den Lehrgang hatte er mit Glanz absolviert. Er schwärmte von dem modernen Schulgebäude, der ausgezeichneten Verpflegung und Betreuung. In Rhönradfahren und Geländedienst, Exerzieren und Kartenlesen, Rassenkunde und Vererbungslehre hatte er viel dazugelernt. Er war wie umgewandelt, ein ganz anderer Mensch. Markig vertrat er die These: Jugend will von Jugend geführt sein! Den Lehrgang leiteten junge, eigens dafür ausgebildete HJ-Führer, die alle sportlich auf der Höhe waren. In Apelts Augen waren Gall, Scholz und Hollmann vertrottelte Greise.
Apelt verkündete den Freunden seinen Entschluß, aktiver HJ-Führer zu werden. Das hätte das Ende des Flottenvereins bedeutet. Gerhard und Helmut mußten ihre ganze Überzeugungskunst aufbieten, um ihn bei der Stange zu halten.
Ende Mai kam ein weiterer Bekannter auf Urlaub - Rudi Scholz, früher der «große» Kalle genannt. Auch er war schon Leutnant, allerdings bei der Infanterie. Stolz ging der «alte» Kalle mit seinem Sohn durch die Stadt.
Rudi Scholz wurde sofort von der Heeresgruppe umlagert. Die maßgeschneiderte Uniform saß ihm wie angegossen. Der Flottenverein fand natürlich Tetzlaffs goldverzierten Rock und seine blendend weiße Mütze viel schöner.
Mit den beiden Offizieren konnte die Schule schon Staat machen. Die Spitze aber nahm der Sturzkampfflieger Ulrich Rudel ein. Er war Pastorensohn und stammte aus einer nahe gelegenen Kleinstadt. Noch lange nach seinem Abgang von der Schule dachten die Lehrer mit Schrecken an diesen Faulpelz und Rabauken. Sogar Kuhles Ohrfeigen waren wirkungslos geblieben. Im Kriege dann brachte er es zu allerhöchsten Ehren. Skeptiker betrachteten seinen «Fall» als einen unwiderlegbaren Beweis dafür, daß der Krieg die Umkehrung aller normalen und in Friedenszeiten gültigen Maßstäbe darstellt. Allerdings hüteten sie sich, eine derartige Schlußfolgerung in Gegenwart von Rämisch, Gall oder Hollmann zu äußern. Ein Großfoto des hochdekorierten und weithin berühmten Fliegerhelden hing in der Aula. Bei den Schulfeiern sahen die Jungens zu ihm auf und wünschten sich an seine Stelle. Sie bedauerten einmal mehr, zu spät auf die Welt gekommen zu sein.
Zur gleichen Zeit, als Rudi Scholz in der Stadt weilte, ging die «Bismarck» im Atlantik verloren. Die Nachrichten darüber waren spärlich und wurden übertönt von der Siegesmeldung, daß man nach Griechenland und Jugoslawien nun auch die strategisch wichtige Mittelmeerinsel Kreta erobert hätte.
Die drei künftigen Seefahrer trauerten. Das größte und stärkste Schlachtschiff lag auf dem Grunde des Ozeans. Für die deutsche Flotte war das ein schwerer Schlag. Der Leutnant Tetzlaff aber war noch einmal davongekommen; er hatte ein Kommando auf der «Tirpitz» erhalten.
22. Juni 1941. Ein Sonntagmorgen. Gewohnheitsmäßig wurde das Radio angedreht, um ein wenig Musik zu hören und die Uhren stellen zu können.
Marschmusik, dazwischen kurze Meldungen. «Deutsche Truppen sind in den heutigen Morgenstunden zum Entscheidungskampf gegen das bolschewistische Rußland angetreten.» Eine Stunde darauf kam eine ausführliche Begründung über alle Sender, direkt aus dem Reichspropagandaministerium.
Studienrat Gerber schwieg bedrückt. Vergebens bemühte sich Gerhard, seinem Vater eine Stellungnahme abzuringen. Der holte wortlos einen Atlas, schlug die Karte der Alten Welt auf und zeigte seinem Sohn das winzige Deutschland und mit einer weiten Handbewegung das riesige, in grüner Farbe eingezeichnete Gebiet der Sowjetunion. «Rußland?»
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