Irrfahrt
der Wehrmacht, doch hätte jeder Hauptmann geringschätzig auf einen Arbeitsdienstführer herabgesehen, obwohl dieser ebenso viele Sterne auf den silbernen Schulterstücken trug.
Der Kürze halber wurde der Oberstfeldmeister im Gespräch und mitunter sogar im Dienst als «Oberst» bezeichnet. Das war glatt eine Beförderung um drei Dienstgrade, und er hörte diese Bezeichnung nicht ungern.
Im Lager ließ sich der Oberst selten blicken. Er pendelte hauptsächlich zwischen der Messe und seiner Wohnung hin und her. Fast immer war er angetrunken, oftmals völlig blau.
Der Oberst wohnte vor dem Lagertor in einer geräumigen und modernen Villa. Zu dieser vornehmen Behausung war er auf nahezu geniale Weise gekommen: Die Baugrube hatte er von Arbeitsmännern, die wegen irgendwelcher Nachlässigkeiten aufgefallen waren, nach Dienstschluß «anstelle einer Bestrafung» ausschachten lassen. Ziegelsteine beschaffte er von einem verrotteten Gebäude, dessen Abbruch man dem Arbeitsdienst übertragen hatte. Unter den Arbeitsmännern befanden sich in jedem Durchgang auch Bauhandwerker der verschiedenen Sparten. Diese Männer ließ er, wenn die Abteilung zum Exerzieren oder Sport ausrückte, auf seiner Baustelle arbeiten. Andere schafften mit Schubkarren den erforderlichen Sand aus einer Kiesgrube heran. Bretter und Balken erhielt er umsonst aus einem Sägewerk. Als Gegenleistung übernahm seine Abteilung mehrere Wochen lang unbezahlte Transportarbeiten für das Werk. Eigentlich brauchte er für sein schönes Haus nur die Nägel, Fensterscheiben, Dachziegel sowie Zement und Kalk zu bezahlen. Aber sogar hiervon hatte er noch einen großen Teil durch dunkle Geschäfte organisiert. Bei dem Hausbau entfaltete der Oberst eine Regsamkeit, die sonst an ihm nicht zu bemerken war.
Den ersten Zug der Abteilung führte Obertruppführer Wabel. Er stammte aus Baden. Man hörte es an seiner gemütlichen Sprechweise, wenn er seine «Leutli» auf Trab zu bringen versuchte.
Von Arbeit hielt Wabel wenig. Früher hatte er schuften müssen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach 1933 wurde das anders. Er kam zum Arbeitsdienst und führte ein bequemes Leben. Deshalb war er natürlich für Hitler. Solange man keine Arbeit von ihm verlangte, war ihm alles recht.
Wabel bevorzugte die Bayern, denn die kamen ja wenigstens aus Süddeutschland. Alle, die nördlich des Mains zu Hause waren, hielt er für mehr oder minder verdächtige Subjekte. Insgeheim bedauerte er, daß die Bayern keine Badenser waren.
Natürlich waren die Bayern gut auf Wabel zu sprechen, nicht nur wegen der Bevorzugung, die sie bei ihm genossen. Immerhin war er «ka Saupreiß». Sie bedauerten lediglich, daß er kein Bayer war.
Trotz der langen Dienstjahre blieben Wabels theoretische Kenntnisse mehr als bescheiden. Er beherrschte überhaupt nur ein Thema: Wachen und Posten. Als er einen erkrankten Feldmeister beim Dienstunterricht über Gasmasken vertreten sollte, bekannte er freimütig, daß er davon keine Ahnung hatte. Er nahm einfach das Thema «Wachen und Posten» wortwörtlich ein zweites Mal durch.
Das Exerzieren mit seinem Zug überließ er grundsätzlich Rutsche. Wenn der Oberst auf dem Platz war, was selten vorkam, gab Wabel selbst Kommandos. Dabei kommandierte er «Abteilung ... halt!» auf dem falschen Fuß. Etwa zehn Mann machten daraufhin einen Schritt zuviel. Sie mußten heraustreten und - ausgenommen die beteiligten Bayern - drei «Ehrenrunden» um den Exerzierplatz laufen.
Wabel war ein hervorragender Schütze. Bei Schießübungen mit erbeuteten französischen Gewehren erzielte er als einziger der Abteilung drei Zwölfen. Er hatte in seiner Jugend leidenschaftlich gewildert und war zweimal vorbestraft.
Stubenältester von Apelt, Gerber und Koppelmann war ein Jüngling aus Breslau, der eine Künstlermähne trug. Er war sehr musikalisch und hatte ein Akkordeon mitgebracht, auf dem er abends spielte. Er hieß Prasse.
Prasse hatte offenbar schon einiges erlebt. Über Dinge, die den anderen völlig neu waren, gab er sachkundige Urteile ab. In seinem Spind hingen Bilder von hübschen Mädchen, die er aus Zeitschriften und Kalendern ausgeschnitten hatte. Heinz Apelt betrachtete die Bilder interessiert. «Schön jung und knusprig!» Prasse musterte ihn kühl und sagte spöttisch: «Anfänger!».
Die drei faßten sich ein Herz und weihten bei einem Glase Bier ihren Kameraden in das Geheimnis ein: Sie seien gewissermaßen noch weniger als Anfänger.
Prasse
Weitere Kostenlose Bücher