Irrfahrt
der Kreisleiter. Anschließend wurde, wie im Programm vorgesehen, die zweiteilige Nationalhymne gesungen. Die Teilnehmer der Veranstaltung hatten dabei aufzustehen, die rechte Hand zum Gruße zu erheben und mitzusingen. Dr. Vetter stand zunächst auf, behielt aber die rechte Hand unten und sang nicht mit. Als das Horst-Wessel-Lied erklang, setzte er sich demonstrativ wieder auf seinen Platz. Der Kreisleiter fixierte den unbotmäßigen Lehrer scharf und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben. Vetter blieb sitzen. Er ballte die Hand zur Faust.
Kurz darauf wurde Dr. Vetter fristlos entlassen. Er ließ sich einen Backenbart wachsen, der bei den Nazis verpönt war. Mit einem breitkrempigen Schlapphut ging er im Stadtpark spazieren. Wenn andere vorschriftsmäßig den Arm hoben, zog er höflich lächelnd seine Kopfbedeckung.
Vetter war sehr belesen und besaß eine umfangreiche Bibliothek kriegsgeschichtlicher Werke. Mancher Schüler, der sich für dieses Gebiet interessierte und den kleinen Vorrat der Stadtbibliothek ausgelesen hatte, holte sich heimlich Bücher bei ihm. Nachmittags gab Dr. Vetter den unbegabten Kindern wohlhabender EItern Privatstunden. Daher fiel es nicht auf, daß auch andere Schüler bei ihm ein und aus gingen.
Unterhaltungen mit Dr. Vetter waren für einen wißbegierigen jungen Menschen, dem die Schule nur geistiges Eintopfessen verabreichte, jedesmal ein Erlebnis. Man konnte mit ihm über alles sprechen. Früher hatte er in politischen Versammlungen mit Anhängern der verschiedensten weltanschaulichen Richtungen debattiert und dabei auch eine Vorstellung von dem gewonnen, was die Kommunisten forderten. In der Schule waren abwertig Begriffe wie Kolchosensystem und Stachanow-Arbeit gefallen, mit denen die Schüler nichts anzufangen wußten. Dr.Vetter klärte sie auf.
Obwohl Vetter mit jeder Mark rechnen mußte, hielt er sich das Berliner Börsenblatt - nicht wegen der Aktienkurse und Geschäftsberichte, sondern wegen der wirtschaftlichen Informationen aus allen Ländern. Außerdem brachte diese Zeitung vorzügliche militärwissenschaftliche Artikel. Das Börsenblatt hatte sich noch einen gewissen Grad von Unabhängigkeit bewahrt, es war nicht völlig gleichgeschaltet.
Aus dieser Quelle wurden zwanglose Gespräche über Douhetismus, deutsch-britisches Flottenabkommen und die Rolle der Panzertruppen gespeist. Dr. Vetter hatte dazu ein klares Urteil, doch ließ er auch andere Meinungen gelten. Den Schülern, die zu blindem Gehorsam erzogen wurden, war diese Art von Diskussion etwas völlig Neues. «Audiatur et altera pars. Auch der andere Teil soll gehört werden», sagte Helmut Koppelmann auf dem Nachhauseweg und fand wieder einmal die Gültigkeit seiner geliebten lateinischen Zitate bestätigt.
Die Zeit brachte es mit sich, daß der Kreis der wißbegierigen Schüler um Dr. Vetter zusammenschmolz. Anfang 1941 waren es nur noch die drei Freunde, die zu ihm kamen. Von ihnen erfuhr er, was sich an der Schule zutrug. Hollmann und Rämisch, die Widersacher Dr. Gall und Dr. Scholz lieferten immer neuen Gesprächsstoff.
Dr. Vetter war entsetzt, in welchem Maße das Niveau der einstmals berühmten Anstalt abgesunken war. In weniger als einem Jahrzehnt - so faßte er seine Eindrücke im stillen zusammen - hatte sich das Antlitz der Schule völlig verändert. Chauvinismus, Militarismus und Rassenwahn bestimmten den Unterricht in Geschichte und Biologie, und schrittweise drang dieses Gift auch in die philologischen Fächer ein. Der Lehrkörper hatte einen empfindlichen Aderlaß erlitten. Demokratisch-humanistisch gesinnte Lehrer waren ausgeschaltet, die meisten der jungen tüchtigen Lehrkräfte seit Kriegsbeginn eingezogen. Die dadurch entstandenen Lücken konnten nicht geschlossen werden. In manchen Fächern fiel der Unterricht entweder ganz aus, oder er wurde notdürftig von anderen Kollegen mitversehen. Von einem regelmäßigen Unterrichtsbetrieb war keine Rede mehr; Kartoffeleinsätze, ganztägige Veranstaltungen der Hitlerjugend, Kohleferien und Luftschutzübungen fraßen einen großen Teil der Schulstunden. Die Leidtragenden waren die Schüler.
«Eure Generation wird es im späteren Leben sehr schwer haben», sagte Dr. Vetter.
An einem klaren Wintersonntag hatten die drei Freunde ihre Luftgewehre mitgenommen, um Krähen zu schießen. Die Tiere waren scheu. Nur wenn man sich geschickt anschlich und lange regungslos wartete, konnte man bei günstiger Position zum Schuß kommen.
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