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Irrsinn

Irrsinn

Titel: Irrsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Entsetzen schwillt noch weiter an, und als Billy begreift, dass er töten muss oder getötet werden wird, drückt er einmal, zweimal, dreimal ab. Jedes Mal zucken seine Arme vom Rückstoß in die Höhe.
    Zwei Fehlschüsse und eine Wunde in der Brust.
    Sein Vater ist geschockt, er taumelt und fällt rückwärts, wä h rend die letzte Kugel ihm eine blutige Nelke an die Brust heftet.
    Der herabfallende Schraubenschlüssel kommt krachend auf einer Bodenfliese auf, die zerspringt. Danach ist kein Gebrüll mehr zu hören, keine wütenden Worte, nur Billys Atem und das gedämpfte, elende Stöhnen seiner Mutter.
    Dann sagt sie: »Daddy?« Ihre Stimme klingt verwaschen und brüchig vor Schmerz. »Daddy Tom?«
    Ihr Vater, ein ehrgeiziger Marineinfanterist, ist im Kampf gefallen, als sie zehn war. Daddy Tom ist ihr Stiefvater.
    »Hilf mir.« Ihre Stimme wird dumpfer, eine erschreckende Veränderung. »Hilf mir, Daddy Tom.«
    Daddy Tom, ein kraftloser Mann mit staubfarbenem Haar, hat Augen, die gelbbraun wie Sandstein sind. Seine Lippen sind ständig ausgedörrt, und sein verkümmertes Lachen reizt jedermanns Nerven.
    Nur unter den extremsten Umständen würde man Daddy Tom um Hilfe bitten, und selbst dann würde man nicht erwarten, welche zu bekommen.
    »Hilf mir, Daddy Tom.«
    Außerdem lebt der Alte in Massachusetts, weit weg von Kalif ornien.
    Der erbarmungswürdige Anblick durchdringt Billys Ersta r rung. Entsetzt, doch von Mitgefühl erfüllt, bewegt er sich auf seine Mutter zu.
    Sie scheint gelähmt zu sein. Der kleine Finger ihrer rechten Hand zuckt unaufhörlich, doch sonst bewegt sich vom Hals abwärts nichts an ihrem Körper.
    Ihr Schädel und ihre Gesichtszüge sehen aus wie ein zerbr o chenes und schlecht geflicktes Gefäß, ganz falsch.
    Ihr offenes Auge – nur eines ist ihr noch geblieben – richtet sich auf Billy, und sie sagt: »Daddy Tom.«
    Sie erkennt ihren Sohn, ihr einziges Kind nicht, und meint, er sei der alte Mann aus Massachusetts.
    »Bitte«, sagt sie mit vor Qualen brechender Stimme.
    Das verwüstete Gesicht weist auf eine nicht wiedergutzum a chende Beschädigung des Gehirns hin. Als Billy das erkennt, entfährt ihm ein ersticktes Schluchzen.
    Ihr einäugiger Blick wandert von seinem Gesicht zu der Waffe in seiner Hand. »Bitte, Daddy Tom. Bitte. «
    Er ist erst vierzehn, ein Junge, der vor kurzer Zeit noch Kind war, und es gibt Entscheidungen, die man von ihm nicht verlangen sollte.
    » Bitte! «
    Es ist eine Entscheidung, die jeden Erwachsenen in die Knie zwingen würde, und Billy kann sie nicht treffen, er wird es nicht tun. Aber er sieht die entsetzlichen Schmerzen seiner Mutter, ihre Angst, ihre Pein.
    Mit erlahmender Zunge fleht sie: »Ach, Jesus, ach, Jesus, wo bin ich? Wer bist du? Wer kriecht da, wer ist das? Wer ist da und macht mir Angst? Solche Angst! «
    Manchmal trifft das Herz Entscheidungen, wenn der Verstand es nicht vermag, und wenngleich wir wissen, dass das Herz vor allem trügerisch ist, so wissen wir doch auch, dass es in den seltenen Augenblicken, in denen wir mit extremer Anspannung und tiefer Qual konfrontiert sind, vom Leiden reingewaschen werden kann.
    In den kommenden Jahren wird Billy nie wissen, ob es die richtige Entscheidung war, in diesem Augenblick seinem Herzen zu vertrauen. Dennoch tut er, was es ihm sagt.
    »Ich hab dich lieb«, sagt er und schießt seine Mutter tot.
    Lieutenant John Palmer ist der erste Polizeibeamte am Tatort.
    Was Billy am Anfang wie der kühne Auftritt einer verlässl i chen Autorität vorkommt, erweist sich später als Attacke eines Geiers, der sich gierig auf seine Beute stürzt.
    Während er auf die Polizei gewartet hat, war Billy nicht in der Lage, die Küche zu verlassen. Er konnte es nicht ertragen, seine Mutter allein zu lassen.
    Er hat das Gefühl, dass ihre Seele noch nicht vollständig dahingegangen ist, sondern im Raum verweilt und durch seine Gegenwart getröstet wird. Vielleicht fühlt er auch nichts dergleichen und wünscht sich nur, es möge so sein.
    Obwohl er es nicht mehr über sich bringt, das zu betrachten, was aus ihr geworden ist, bleibt er in ihrer Nähe. Er wendet nur den Blick ab.
    Als Lieutenant Palmer in die Küche tritt, ist Billy nicht mehr allein und muss auch nicht mehr stark sein. Etwas in ihm gerät ins Gleiten. Ein Zittern überkommt ihn und zwingt ihn fast in die Knie.
    Lieutenant Palmer fragt: »Was ist hier vorgefallen, mein Junge?«
    Angesichts der beiden Tode ist Billy niemandes Kind mehr, und er

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