Irrsinn
spürt die Einsamkeit bis in die Knochen, begleitet von einer unendlichen Trostlosigkeit und einer Angst vor der Zukunft.
Als er den Ausdruck mein junge hört, kommt ihm das wie eine ausgestreckte Hand vor, die ihm Hilfe bietet.
Billy geht auf John Palmer zu.
Weil der Lieutenant berechnend ist oder auch nur, weil er doch menschlich ist, öffnete er die Arme.
Zitternd drückt Billy sich an ihn, und John Palmer hält ihn fest. »Junge, was ist hier vorgefallen?«
»Er hat sie geschlagen. Ich hab ihn erschossen. Mit dem Schraubenschlüssel hat er sie geschlagen.«
»Du hast ihn erschossen?«
»Er hat sie mit dem Schraubenschlüssel geschlagen. Ich hab ihn erschossen. Dann hab ich sie erschossen.«
Jemand anders hätte Mitgefühl mit dem emotionalen Tumult dieses jungen Zeugen gehabt, doch der Lieutenant denkt in erster Linie daran, dass er noch nicht zum Captain befördert worden ist. Er ist ein ehrgeiziger Typ. Und ungeduldig.
Zwei Jahre vorher hat ein Siebzehnjähriger in der Nähe von Los Angeles, weit südlich von Napa, seine Eltern erschossen. Vor Gericht hat er sich für unschuldig erklärt, wegen langjähr i gen sexuellen Missbrauchs.
Der Prozess, der nur zwei Wochen vor dieser entscheidenden Nacht im Leben von Billy Wiles zu Ende ging, hat zu einem Schuldspruch geführt, obwohl alle Kommentatoren von einem Freispruch ausgegangen sind. Der die Ermittlungen leitende Kriminalbeamte hatte sorgfältig eine überwältigende Menge Indizien zusammengetragen, mit denen er nachweisen konnte, dass der Täter log.
In den vergangenen beiden Wochen war dieser nimmermüde Beamte ein regelrechter Medienheld. Man hat ihn ständig im Fernsehen gesehen. Sein Name ist inzwischen besser bekannt als der des Bürgermeisters von Los Angeles.
Als John Palmer hört, was Billy da sagt, sieht er nicht die Gelegenheit, die Wahrheit zu ergründen, sondern eine Gelege n heit für sich.
»Wen hast du erschossen, Junge? Ihn oder sie?«
»Ich h-hab ihn erschossen. Ich h-hab sie erschossen. Er hat sie so arg mit dem Schraubenschlüssel geschlagen, dass ich sie beide er-erschießen musste.«
Während in der Ferne weitere Sirenen aufheulen, führt Lieut e nant Palmer Billy aus der Küche ins Wohnzimmer. Dort setzt er den Jungen aufs Sofa.
Seine Frage lautet nun nicht mehr: Was ist hier vorgefallen, mein junge? Nun heißt es: »Was hast du getan, Junge? Was hast du getan?«
Zu lange hört der junge Billy Wiles den Unterschied nicht.
So brechen sechzig Stunden in der Hölle an.
Mit vierzehn kann man Billy vor Gericht nicht behandeln wie einen Erwachsenen. Da man ihn also weder zum Tod noch zu lebenslänglicher Haft verurteilen kann, sollte man ihn auch beim Verhör nicht so stark unter Druck setzen wie einen erwachsenen Täter.
John Palmer ist jedoch entschlossen, Billy zu brechen. Er will ihm das Geständnis entlocken, dass er seine Mutter selbst mit dem Schraubenschlüssel geprügelt, seinen Vater, der sie schützen wollte, erschossen, und schließlich sie mit einer Kugel endgültig niedergestreckt hat.
Weil die Bestrafung für jugendliche Täter wesentlich weniger schwer ist als für Erwachsene, werden ihre Rechte gelegentlich nicht so beflissen gewahrt, wie es sein sollte. Weiß der Verdäc h tige zum Beispiel nicht, dass er den Beistand eines Anwalts verlangen sollte, so teilt man ihm das womöglich nicht rechtze i tig mit.
Ist der Verdächtige mittellos und braucht einen Pflichtverte i diger, so besteht eine gewisse Chance, dass der ihm zugeteilte Anwalt eine Pfeife ist. Oder unklug vorgeht. Oder böse verkatert ist.
Nicht jeder Anwalt ist so edel wie jene, die im Fernsehen für die Unterdrückten kämpfen, so wie auch die Unterdrückten im wirklichen Leben nur selten so edel sind wie jene auf dem Bildschirm.
Ein erfahrener Beamter wie John Palmer, der sich der Unte r stützung bestimmter Vorgesetzter erfreut, von erbarmungslosem Ehrgeiz besessen und bereit ist, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, hat eine Menge Tricks in der Hinterhand. Setzt er sie geschickt ein, so kann er eine ganze Weile verhindern, dass ein Verdächtiger Kontakt mit einem Anwalt hat, und ihn in der Zwischenzeit so verhören, wie es ihm passt.
Eine der wirksamsten Finten besteht darin, Billy zu einem sogenannten »Busfahrer« zu machen. Wenn der Pflichtverteid i ger im Gefängnis von Napa eintrifft, stellt er fest, dass sein Klient wegen Platzmangels oder anderer vorgetäuschter Gründe nach Calistoga verlegt wurde. Fährt er dorthin, erfährt er,
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