Irrsinn
Anruf von Lanny erwartete er zwar nicht mehr, doch vielleicht meldete sich der Mörder.
Womöglich hatte er sich auch schon gemeldet, in Form des stummen Anrufs am Abend vorher. Einen Beweis dafür hatte Billy zwar nicht, aber im Grunde zweifelte er nicht daran.
Vielleicht rief er auch heute Abend an. Wenn Billy mit ihm sprechen konnte, dann gelang es ihm vielleicht, etwas über ihn zu erfahren.
Der Illusion, ein solches Ungeheuer zum Plaudern bringen zu können, gab Billy sich freilich nicht hin. Diskutieren konnte man mit diesem mordlüsternen Psychopathen erst recht nicht, um ihn mit rationalen Argumenten dazu zu bringen, ein Leben zu verschonen.
Es war jedoch durchaus sinnvoll zu hören, wie der Mann ein paar Worte sprach. Aus seiner Stimme konnte man eventuell auf seine Herkunft, seinen Bildungsgrad, sein ungefähres Alter und Ähnliches schließen.
Mit etwas Glück verriet der Mörder sogar unwissentlich etwas Konkretes über sich. Ein Anhaltspunkt, ein winziger Hinweis, aus dem sich durch sorgfältige Analyse mehr entwickeln ließ, hätte Billy sicher mehr Glaubwürdigkeit in den Augen der Polizei verschafft.
Sich Lanny Olsen zur Brust zu nehmen, verschaffte Billy zwar womöglich eine gewisse Befriedigung, doch es rettete ihn nicht aus der Falle, in die ihn der Mörder gesteckt hatte.
Er hängte den Autoschlüssel an den üblichen Haken.
Am Vorabend hatte er in einem Anfall von Nervosität an allen Fenstern die Jalousien heruntergelassen, heute Morgen hatte er nur die in der Küche hochgezogen. Nun ließ er sie wieder herunter.
Er stand mitten in der Küche.
Er blickte aufs Telefon.
Dann beschloss er, sich hinzusetzen, und griff mit der rechten Hand nach der Lehne des nächsten Stuhls, zog diesen jedoch nicht unter dem Tisch hervor.
Er stand einfach nur da und betrachtete den polierten schwa r zen Granitboden zu seinen Füßen.
Sein Haushalt war blendend in Schuss. Auf den glänzenden Fliesen sah man keinen einzigen Fleck.
Die schwarze Fläche unter seinen Füßen schien keinerlei Substanz zu haben. Es war, als stünde er flügellos in der Luft, hoch oben in der Nacht, unter sich klaftertief gähnende Leere.
Nun zog er den Stuhl doch noch hervor und setzte sich. Es dauerte kaum eine Minute, bis er wieder aufstand.
Unter den gegebenen Umständen hatte Billy Wiles keine Ahnung, wie er sich verhalten und was er tun sollte. Die simple Aufgabe, die Zeit totzuschlagen, brachte ihn völlig aus dem Konzept, obwohl er seit Jahren kaum etwas anderes tat.
Weil er noch nichts zum Abendessen gehabt hatte, trat er an den Kühlschrank. Appetit hatte er allerdings keinen. Nichts von dem, was da lag, sprach ihn an.
Er warf einen Blick auf den Autoschlüssel, der an seinem Haken hing.
Er ging zum Telefon und starrte es eine Weile an.
Schließlich setzte er sich wieder an den Tisch.
Lehre uns, was wichtig für uns ist und was nicht. Lehre uns, stillzusitzen.
Nach einer Weile ging er ins Arbeitszimmer, wo er so viele Stunden damit verbracht hatte, am Werktisch architektonische Verzierungen zu schnitzen.
Er suchte sich mehrere Werkzeuge und einen Block Eiche n holz aus, der zu einem Büschel Akanthusblätter werden sollte, aber erst zur Hälfte fertig war. Dann trug er alles in die Küche.
Im Arbeitszimmer befand sich zwar auch ein Telefon, aber heute Abend blieb Billy lieber in der Küche. Im Arbeitszimmer stand nämlich auch ein bequemes Sofa, und Billy wollte nicht in Versuchung geraten, sich daraufzulegen. Sonst schlief er womöglich ein und wurde weder vom Anruf des Mörders noch von irgendetwas anderem je wieder geweckt.
Dass diese Vorstellung nicht ganz realistisch war, kümmerte ihn nicht. Er setzte sich mit Holz und Werkzeug an den Küche n tisch.
Ohne Schraubstock konnte er nur an den feineren Details der Blätter arbeiten, was eine ziemlich diffizile Aufgabe war. Das Messer entlockte der Eiche ein hohles Geräusch, als handelte es sich nicht um Holz, sondern um Gebein.
Um zehn nach zehn, weniger als zwei Stunden vor Ablauf der Frist, entschloss er sich unvermittelt, den Sheriff aufzusuchen.
Sein Haus gehörte zu keiner größeren Gemeinde, weshalb der Sheriff für ihn zuständig war. Die Kneipe stand zwar in Vine y ard Hills, doch der Ort war zu klein, um sich eine eigene Polizeitruppe leisten zu können. Deshalb vertrat Sheriff Palmer auch dort das Gesetz.
Billy nahm den Schlüssel vom Haken, öffnete die Tür, trat auf die Veranda – und hielt inne.
Wenn du zur Polizei gehst, werde ich
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