Irrsinn
Hände in den Hosentaschen.
Es sah ganz so aus, als würde er das Pflegeheim beobachten.
Angesichts der Entfernung und des Lichts waren keine Einze l heiten seiner Gestalt erkennbar. Die Sonne stand hinter seinem Rücken, sodass er eine Silhouette bildete.
Billy hörte das Trappeln von Füßen auf hohlen Treppenstufen. In Wirklichkeit war das sein dröhnendes Herz, und er schärfte sich ein, keinen Verfolgungswahn zu entwickeln. Was immer auf ihn zukam, er brauchte ruhige Nerven und einen klaren Verstand, um damit fertig zu werden.
Er wandte sich vom Fenster ab und trat zum Bett.
Barbaras Augen bewegten sich unter den Lidern. Angeblich wies das darauf hin, dass jemand träumte.
Da jedes Koma ein Versunkensein darstellte, das wesentlich tiefer reichte als gewöhnlicher Schlaf, fragte sich Billy, ob auch ihre Träume lebhafter waren als gewöhnliche Träume – voll fiebriger Geschehnisse, von einem Gewitter aus Geräuschen und Farben umgeben.
Er hatte sogar Angst, es könnte sich um immerwährende Albträume handeln.
Als er sie auf die Stirn küsste, murmelte sie: »Der Wind ist im Osten …«
Er wartete, doch sie sagte nichts mehr, obgleich die Augen unter den geschlossenen Lidern sich rasch von einem Phantom zum anderen bewegten.
Weil ihre Worte keine Bedrohung ausdrückten und weil kein Anflug von Gefahr ihre Stimme verdüsterte, entschloss Billy sich zu glauben, dass zumindest ihr derzeitiger Traum gutartig war.
Obwohl er es eigentlich nicht wollte, nahm er den quadrat i schen, beigefarbenen Umschlag an sich, der auf dem Nachttisch lag. In flüssiger Handschrift stand sein Name darauf. Ungelesen steckte er ihn in die Tasche, denn er wusste, dass ihn Jordan Ferrier, Barbaras Arzt, dort für ihn hinterlegt hatte.
Mussten wichtige medizinische Fragen besprochen werden, so griff der Arzt immer zum Telefon. Briefe schrieb er nur, wenn es nicht um Medizin, sondern um des Teufels Werk ging.
Ans Fenster zurückgekehrt, stellte Billy fest, dass der Beo b achter im Weinberg verschwunden war.
Als er wenige Minuten später aus der Tür trat, hätte es ihn nicht gewundert, an seiner Windschutzscheibe eine dritte Botschaft vorzufinden. Glücklicherweise blieb diese Entd e ckung ihm erspart.
Wahrscheinlich hatte es sich bei dem Mann zwischen den Reben um jemand ganz Gewöhnlichen gehandelt, der nur harmlose Dinge im Sinn hatte. Nicht mehr und nicht weniger.
Billy fuhr direkt nach Hause, stellte den Wagen in die Garage, stieg die Stufen zur Veranda hoch und stellte fest, dass seine Küchentür halb offen stand.
8
In keiner der beiden Botschaften war Billy bedroht worden. Die Gefahr, der er sich gegenübersah, galt nicht seinem Leib oder Leben. Allerdings wäre ihm eine derartige Gefahr lieber gewesen als das moralische Dilemma, dem er ausgesetzt war.
Als er die Hintertür seines Hauses offen stehen sah, überlegte er sich trotzdem, ob er im Garten warten sollte, bis Lanny und Sheriff Palmer eintrafen.
Diesem Gedanken gab er sich jedoch nur einen kurzen Auge n blick hin. Ob Lanny und Palmer ihn für feige hielten, war ihm dabei egal. Er wollte vor sich selbst nicht als feige dastehen.
Er ging hinein. In der Küche erwartete ihn niemand.
Das schwindende Tageslicht rieselte eher an den Fenstersche i ben herab, als dass es hindurchgedrungen wäre. Wachsam schaltete er ein Licht nach dem anderen an, während er durchs Haus ging.
Ein Eindringling fand sich weder in einem Zimmer noch in einem Schrank. Merkwürdigerweise waren auch keinerlei Spuren eines Einbruchs zu erkennen.
Als er in die Küche zurückkam, fragte er sich allmählich, ob er womöglich selbst vergessen hatte, die Tür zuzuziehen und abzuschließen, als er morgens aus dem Haus gegangen war.
Diese Vermutung löste sich in Luft auf, als er auf einem der Schränke den Zweitschlüssel liegen sah, gleich neben dem Telefon. Eigentlich hätte das Ding an der Unterseite von einer der zwanzig Dosen mit Beize und Holzlack kleben sollen, die auf einem Regal in der Garage standen.
Das letzte Mal hatte Billy den Zweitschlüssel vor fünf oder sechs Monaten verwendet. So lange beobachtete der Mörder ihn bestimmt noch nicht.
Wahrscheinlich hatte der Kerl einfach angenommen, dass es einen solchen Schlüssel geben musste, und war intuitiv darauf gekommen, dass Billy ihn höchstwahrscheinlich in der Garage versteckt hatte.
Allerdings nahm Billys professionell ausgerüstete Holzwer k statt etwa zwei Drittel der Garage in Anspruch. In ihren zahlreichen
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