Irrsinn
keinerlei Verkehr. Seine Schritte hatten selbst die Zikaden und Kröten zum Schweigen gebracht. Fast konnte er die Sterne hören.
Auf seinen ans Dunkel angepassten Blick, wenn auch auf nichts anderes vertrauend, ging er die sanft ansteigende Wiese hinauf. An ihrem Ende kam die rissige, mit Schlaglöchern übersäte Asphaltstraße, die zum Haus von Lanny Olsen führte.
Hoffentlich trat er nicht auf eine Klapperschlange. Die waren in derart warmen Sommernächten auf der Jagd nach Feldmäusen und jungen Kaninchen. Ungebissen erreichte er die Straße und ging sie hinauf, an zwei Häusern vorbei, die beide dunkel und still dastanden.
Am zweiten Haus lief ein Hund frei im Garten herum.
Statt zu bellen, rannte er an dem hohen Zaun entlang und verlangte winselnd nach Billys Aufmerksamkeit.
Lannys Grundstück war gut fünfhundert Meter von dem Haus mit dem Hund entfernt. Hinter jedem Fenster seines Hauses brachte unterschiedlich starkes Licht die Scheiben zum Funkeln oder vergoldete die Vorhänge.
Im Garten hockte Billy sich neben einen Pflaumenbaum. Von hier aus konnte er zwei Seiten des Hauses sehen, die westliche, an der sich der Eingang befand, und die nördliche.
Theoretisch bestand die Möglichkeit, dass es sich bei der ganzen Sache um einen üblen Scherz handelte, den Lanny ihm spielte.
Schließlich wusste Billy gar nicht mit Sicherheit, dass unten in Napa eine blonde Lehrerin ermordet worden war. Das hatte er nur von Lanny gehört und ihm geglaubt.
In der Zeitung hatte er jedenfalls keinen Bericht über einen Mord gesehen. Gut, vielleicht war die Tat auch erst nach Redaktionsschluss entdeckt worden. Außerdem las er nur selten Zeitung.
Vor den Fernseher setzte er sich nie. Gelegentlich hörte er sich im Autoradio den Wetterbericht an, aber meistens lief im CD-Spieler Zydeco oder Western Swing.
Jemand, der Cartoons zeichnete, spielte anderen Leuten wah r scheinlich auch gern Streiche. Da Lanny seine komische Ader allerdings so lange unterdrückt hatte, war sie weitgehend verkümmert. Es war zwar nett, mit ihm zusammen zu sein, aber besonders viel zu lachen gab es dabei normalerweise nicht.
Trotz dieser Überlegungen hatte Billy nicht die Absicht, sein Leben – oder auch nur einen Nickel – darauf zu verwetten, dass Lanny Olsen ihn veräppeln wollte.
Er erinnerte sich daran, wie verschwitzt, nervös und bekü m mert sein Freund sich abends auf dem Parkplatz der Kneipe verhalten hatte. Lanny war das, was man ihm ansah. Hätte er nicht Cartoonist, sondern Schauspieler werden wollen, so wäre er bestimmt kläglich gescheitert und selbst dann als Cop mit einer problematischen Zehnerkarte geendet, wenn seine Mutter nicht krebskrank geworden wäre.
Nachdem Billy das Haus sorgfältig beobachtet hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand aus einem der Fenster schaute, schlich er an der vorderen Veranda entlang, um einen Blick auf die Südwand zu werfen. Auch dort war jedes Fenster erleuchtet.
Als er in gebührender Entfernung vom Haus dessen Rückseite erreichte, sah er, dass die Hintertür offen stand. Ein Lichtstreifen lag wie ein Teppich auf dem dunklen Boden der Veranda und verlockte dazu, über die Türschwelle zu treten.
Eine derart offensichtliche Einladung schien auf eine Falle hinzudeuten. Und plötzlich erwartete Billy, Lanny Olsen dort drinnen nur noch tot vorzufinden.
Wenn du nicht zur Polizei gehst, um sie einzuschalten, werde ich einen unverheirateten Mann umbringen, den die Welt nicht sehr vermissen wird.
Zweifellos würde Lannys Begräbnis nicht von Tausenden Trauergästen besucht werden, vielleicht nicht einmal von hundert, aber vermissen würden ihn manche schon. Nicht die ganze Welt, aber einige.
Als Billy sich entschieden hatte, die Mutter zweier Kinder zu verschonen, war ihm nicht klar gewesen, dass er damit Lanny zum Tod verurteilt hatte.
Hätte er das gewusst, so hätte er womöglich eine andere Wahl getroffen. Den Tod eines Freundes zu wählen wäre härter gewesen, als eine namenlose Fremde demselben Schicksal auszuliefern, selbst wenn diese Fremde zwei kleine Kinder hatte.
Darüber wollte er lieber gar nicht nachdenken.
Ganz hinten im Garten stand der Stumpf einer kranken Eiche, die schon vor langer Zeit gefällt worden war. Er hatte einen Durchmesser von gut einem Meter und war halb so hoch.
An einer Seite des Baumstumpfs befand sich ein von Wetter und Fäulnis ausgehöhltes Loch. Darin steckte ein Gefrierbeutel mit Reißverschluss, der einen zweiten Hausschlüssel
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